Seit 1747, zur Zeit Friedrichs II., ist in Deutschland (bzw. damals Preußen) der Suizidversuch nicht mehr strafbar. Cesare Beccaria, ein italienischer Rechtsphilosoph der Aufklärung, argumentierte damals in seinem Hauptwerk Über Verbrechen und Strafen, dass es drei Arten von Verbrechen gebe, „solche, die unmittelbar die Gesellschaft zerrütten […], solche die gegen die private Sicherheit eines einzelnen Bürgers verstoßen und damit nur mittelbar gegen die Gesellschaft gerichtet sind und schließlich solche, die dem zuwider sind, ‚was ein jeder nach dem Gesetz im Hinblick auf das öffentliche Wohl zu tun oder zu lassen hat‘“ (Uwe Murmann: Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, Springer 2005, S. 40). Letztere würden wir heute wohl unter „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ zusammenfassen. Der Suizid jedoch, ist er doch eine Maßnahme, die sich gegen einen selbst richtet, ließe sich nicht in eine der Kategorien einordnen und könne folglich auch kein Verbrechen sein – es sei denn er würde in irgendeiner Form doch gesellschaftsschädlich, was, zumindest fällt mir hier nur dieses Beispiel ein, bei einem erweiterten Suizid der Fall wäre. Laut Beccaria sei eine Auswanderung sogar schädlicher für den Staat als ein Suizid, da in diesem Fall das eigene Vermögen und die Fähigkeiten transferiert würden…
Seit 1747 ist es also das gute Recht eines jeden von uns, sich das Leben zu nehmen, ohne bei einem eventuellen Scheitern anschließend bestraft zu werden. Nun beschloss der Bundestag im Jahr 2015 jedoch, mit dieser liberalen Tradition zu brechen und erweiterte das Strafgesetzbuch um §217, wonach die sogenannte „Beihilfe“ zur Selbsttötung (hier war ich bei Schirach erstaunt, dass er einerseits stark konnotierte Wörter wie Selbstmord und Freitod zugunsten von Suizid ausklammert, seine Figuren aber dennoch unkommentiert von Beihilfe und damit einem in Zusammenhang mit Verbrechen stehenden Wort anstatt assistiertem Suizid sprechen lässt) auch todkranker PatientInnen unter Strafe gestellt wurde, wenn sie geschäftsmäßig erfolge – ÄrztInnen und PflegerInnen, die vorher vielleicht dem letzten Wunsch ihrer Schützlinge nachkommen konnten, drohte fortan eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.
Dem Verlangen vieler unheilbar erkrankter Menschen nach einem Sterbehilfegesetz wie in der Schweiz, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Kanada, etc. wurde damit ein Riegel vorgeschoben. Wer todkrank ist, seinem Leiden ein Ende setzen und dazu nicht gerade seine Tochter um Hilfe bitten wollte (denn Angehörige klammerte der Paragraph aus), musste fortan also entweder aus einem Sammelsurium an schmerzhaften und unsicheren Suizidmethoden auswählen oder in der Fremde, in einer Einrichtung in der Schweiz sterben. 2017 entschied dann das Bundesverwaltungsgericht (hier der Fall), dass der „Zugang zu einem Betäubungsmittel, das eine schmerzlose Selbsttötung ermöglicht, […] in extremen Ausnahmesituationen nicht verwehrt werden“ darf. Trotz dieses Urteils wies das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf Anweisung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in den folgenden Jahren jeden einzelnen der über 100 daraufhin gestellten Anträge zurück, weil laut ihm (der bei der Abstimmung 2015 – oh Überraschung – gegen die Sterbehilfe stimmte) das BfArM nicht dafür verantwortlich sein sollte, Anträge auf Erlaubnis zum Erwerb tödlicher Betäubungsmittel zu bewilligen. Diese Hinhaltetaktik fährt er bis heute, obwohl im Februar diesen Jahres nach einer Reihe an Verfassungsbeschwerden die Verstrafung des Suizids von 2015 – denn letztlich kann man ja nur der Beihilfe zu einem Verbrechen angeklagt werden – vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ bestätigt wurde (hier nachzulesen), wobei dies auch die Freiheit umfasse, sich „hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“, wenngleich „[n]iemand […] verpflichtet werden [könne], Suizidhilfe zu leisten“. Die sogenannte aktive Sterbehilfe bleibt weiterhin verboten, das tödliche Medikament, so man es denn zur Verfügung gestellt bekommt (bisher wurde wie gesagt nicht ein Antrag bewilligt), muss man selbst einnehmen. Spahn und das BMG berufen sich darauf, dass „Die Auslegung des Betäubungsmittelrechts und insbesondere die Frage, ob das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte den Erwerb eines tödlich wirkenden Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung erlauben muss, […] nicht Gegenstand des Verfahrens“ waren. Insofern tut sich hier trotz des Urteils erst einmal rein gar nichts, bis das Bundesverfassungsgericht sich dieser Frage und der Präzisierung der Beschlüsse von Februar angenommen hat… (Die Ergebnisse einer Untersuchung des Bundestages von Juni 2020 zu Regelungen über die Verschreibung von Natrium-Pentobarbital in anderen Ländern könnt ihr hier nachlesen)
Wie ihr an dieser „kleinen“ Vorrede und Einordnung bemerkt haben dürftet, sind Sterbehilfe und Suizid für mich sehr emotional aufgeladene und wichtige Themen, weshalb ich, unabhängig davon, was für negative Kritikpunkte ich im Folgenden vorbringen werde, dankbar bin, dass Ferdinand von Schirach sich ihnen in seinem neuen Buch „Gott“ angenommen hat und so die nötige Aufmerksamkeit darauf lenkt.
„Gott“ ist nach „Terror“ sein zweites Theaterstück zu einer hochaktuellen und brisanten ethischen Problemstellung, der wir uns als Gesellschaft nicht entziehen dürfen. Hierbei prallen die Argumente unterschiedlichster Parteien aufeinander, jedoch ohne zu einem abschließenden Urteil zu kommen: Das ist am Ende der Leser- bzw. Zuschauerschaft überlassen. Zumindest war das so angedacht. Warum diese Idee im Falle von „Gott“ nicht so ganz funktioniert, erkläre ich euch gleich. Zuerst ein paar Worte zur Ausgangssituation…
Richard Gärtner möchte sterben. Und das nicht auf schmerzhafte, unsichere, vor allem unwürdige Weise mit Messer, Pistole, Strick oder Schienenplan bewaffnet, sondern durch das Medikament Natrium-Pentobarbital, das bereits von Sterbehilfeorganisationen anderer Länder benutzt wird, um ihren PatientInnen einen schmerzlosen Abschied zu ermöglichen. Doch der Antrag des 78-Jährigen wird (wie alle anderen auch) vom BfArM abgelehnt. Nun findet sich Gärtner vor den Deutschen Ethikrat (aka der Leserschaft bzw. dem Publikum) wieder, der seinen Fall besprechen möchte. Denn der Rentner ist nicht etwa unheilbar krank, wie man meinen könnte, sondern kerngesund. Körperlich wie geistig, das beweisen die beiden vorliegenden Gutachten. Dennoch möchte er sterben. Seit dem Tod seiner Frau vor 3 Jahren bedeutet ihm das Leben nichts mehr. Und bevor er eines Tages an Schläuchen im Krankenhaus vor sich hinsiecht, möchte er lieber „als ordentlicher Mensch sterben, so, wie ich gelebt habe“ (S. 18). Und die Entscheidung steht. Das hat er wieder und wieder mit seinen Kindern ausdiskutiert… Nun, nachdem das Urteil des Bundesverfassungsgerichts den Aspekt des Dürfens bestätigt hat, stellt der Ethikrat die Frage: Sollen ÄrztInnen ihren PatientInnen beim Suizid helfen?
Zu Wort kommen VertreterInnen der Rechtswissenschaften, Bundesärztekammer und der Kirche (an dieser Stelle war ich etwas enttäuscht, dass nur die katholische Sicht vertreten ist, dabei wird zu Beginn des Stücks noch diskutiert, welchen Einfluss Religion auf eine solche Grundsatzentscheidung haben darf – andere Glaubensrichtungen wie Buddhismus und Hinduismus hätten mich sehr interessiert, wie auch allgemein philosophische Positionen), die über ethische Aspekte fabulieren und düstere Zukunftsvisionen malen, während Herr Gärtner die Diskussion immer wieder auf die menschliche Ebene zurückholt. Schirach gelingt es hier vortrefflich, all die im Raum stehenden Argumente nicht nur durch glaubhafte StellvertreterInnen anzubringen, sondern auch sinnvoll miteinander zu verbinden und ggf. auszuhebeln.
„Wenn wir das Leben nach seinem ‚Nutzen‘ beurteilen, dann werden wir bald wieder beim ‚gesunden Volksempfinden‘ sein und festlegen, welche Menschen wir in unserer Gemeinschaft nicht wollen: Behinderte, Depressive, Alte, Langsame.“ S. 78
Wie handhaben es andere Länder? Was sind die aktuellen Zahlen? Warum ist der Ausbau der Palliativmedizin wichtig, jedoch keineswegs immer eine Alternative zum assistierten Suizid? Welche Rolle spielt der hyppokratische Eid tatsächlich? Was bedeutet Vertrauen? Wie heißt es in der Bibel noch gleich zum Suizid? Warum sind aktive und passive Sterbehilfe fadenscheinige Unterscheidungen? Wer garantiert, dass unser Respekt vor dem Leben bestehen bleibt? Wem gehört unser Leben? Uns? Der Gesellschaft? Unserer Familie? Gott?
Eine jede geschilderte Position ist nachvollziehbar und bringt wichtige Punkte an, die zur Vorsicht ermahnen. Doch ebenso wird deutlich, dass jene Befürchtungen zwar ernst genommen, jedoch keineswegs für unausweichlich gehalten werden müssen, wenn man um die Gefahr weiß. Denn am dominantesten bleibt stets die Stimme von Gärtners Anwalt, der auf jedes Kontra-Argument eine Antwort hat. Hier ist deutlich spürbar, dass sich Schirach intensiv damit beschäftigt hat, Gegenargumente zu konservativen Positionen aufzustellen, doch indem er seinem Alter Ego den größten Redeanteil zur Verfügung stellt und die gesamte Argumentation so aufbaut, dass er stets das letzte Wort hat, wird eine klare Position des Stückes deutlich. Das wäre an sich nicht problematisch, gäbe es da nicht die zuvor erwähnte Prämisse, die Leserschaft bzw. das Publikum abschließend selbst urteilen zu lassen. Durch die fehlende Neutralität funktioniert diese „es gibt kein richtig und kein falsch“-Idee hier einfach nicht. Insofern wäre es aus meiner Sicht besser gewesen, man hätte sie dem Stück nicht künstlich übergestülpt.
Was man außerdem nicht erwarten darf, sind lebendige Charaktere. Einmal abgesehen von Gärtner und seinem Anwalt, die zu Beginn ein wenig Farbe auftanken, bleiben die restlichen Beteiligten schrecklich blass, sind hier eben nur Mittel zum Zweck, das Sprachrohr ihrer Argumente, die Überzeugungsarbeit wird auf die SchauspielerInnen abgewälzt. Doch sei es drum. Immerhin gibt es ein lebendiges, gerichtsartiges hin- und her und keine langwierigen Plädoyers. Die Botschaft kommt an und das war das Ziel.
„Wenn wir damit anfangen, mögliche Voraussetzungen für eine ärztliche Beihilfe beim Suizid allgemeingültig zu formulieren, machen wir das Sterben verhandelbar. Am Ende werden wir dann auch über das Töten verhandeln.“ S. 38
Wobei ich mir an der ein oder anderen Stelle gewünscht hätte, dass sich mehr getraut wird, aus der – insofern man sie denn als das bezeichnen kann – comfy debate, der alle ZuschauerInnen halbwegs gelassen begegnen dürften, herauszutreten. Die Frage etwa, ob die zu erwartende nähere Präzisierung zur Erlaubnis von Natrium-Pentobarbital auch gesunde Menschen wie Herrn Gärtner einschließen sollte, wird plump mit der Aussage abgeschmettert, dass so etwas nur unheilbar Kranken, genauer gesagt: physisch unheilbar Kranken vorbehalten werden sollte. Immerhin wird die Problemstellung bei PatientInnen angesprochen, die das Medikament selbst nicht mehr einnehmen könnten und folglich auf eine aktive Mithilfe angewiesen wären, doch psychische Krankheiten wie Demenz und Depressionen werden nicht in gleichem Maße ernstgenommen. Ich verstehe, dass das Publikum bzw. die Leserschaft für eine solche Diskussion womöglich noch nicht bereit ist, weil psychische Krankheiten hierzulande noch immer zu wenig Aufklärung erfahren, doch bei einem Alzheimerpatienten, der sein Leben lang gesagt hat, er will so niemals enden, darauf zu verweisen, dass es ihm in diesem Stadium, wo er ja ein anderer Mensch ist als der von damals und es ihm doch ganz gut so gehe – dürfe man da überhaupt noch entscheiden? – (nebenbei gesagt ein höchst interessantes Argument), oder etwa einem depressiven Menschen, der seit Jahren sein Bett nicht mehr verlassen und nur noch an die Decke starren, ja seinen Suizid nicht einmal mehr in die eigene Hand nehmen kann, weil er derart auf äußere Hilfe angewiesen ist, finde ich an dieser Stelle mit der Aussage „Depressionen sind gut heilbar“ zu kurz abgefrühstückt. Denn ja, es bestehen in der Tat sehr gute Heilchancen, aber wie bei physischen Krankheiten gibt es nun einmal auch psychische Krankheiten, die sich trotz aller Bemühungen, die vorher zweifelsohne ausgeschöpft gehören, nicht heilen lassen. Ich finde, gerade da muss die Diskussion ansetzen – auch in Hinblick auf „aktive“ und „passive“ Sterbehilfe. Hier muss ein Weg gefunden werden, genug Einschränkungen zu formulieren, die den Zugang zum Medikament stark kontrollieren, allerdings auch nicht in sämtlichen Fällen außerhalb einer schweren Krebsdiagnose unmöglich machen. Doch ich verstehe wie gesagt auch, warum das hier zu weit geführt hätte. Ich wollte nur den Gedanken nicht unerwähnt lassen.
„Wir können bedauern, wenn ein Mensch sterben will. Wir dürfen natürlich alles versuchen, ihn umzustimmen. Aber wenn uns das nicht gelingt, ist seine freie Entscheidung zu respektieren und zu akzeptieren.“ S. 39
Wo das Theaterstück zum Teil nur Andeutungen macht, gehen die drei anhängenden Essays zu kirchlicher, rechtlicher und ethischer Geschichte etwas mehr in die Tiefe. Für mich hätte das Buch ohne die Essays nicht ganz funktioniert – als aufgeführtes Theaterstück, das Aufmerksamkeit auf das Thema lenken will, ja, doch in Buchform bin ich froh um die ergänzenden Informationen. Auch wenn ich mir wie bereits erwähnt ein paar mehr Infos zu anderen Religionen und philosophischen Standpunkten gewünscht hätte, kamen doch die wesentlichen Positionen der aktuellen Debatte nicht nur angemessen zu Wort, sondern wurden auch auf ihre „Haltbarkeit“ hin getestet, sodass Schirachs neuester Streich die Leserschaft und das Theaterpublikum hoffentlich dazu motiviert, ein Teil der Debatte zu werden. Ich kann euch das Buch also wärmstens empfehlen.
Ferdinand von Schirach | Gott | Luchterhand | 160 Seiten | 18,00 € | ISBN 978-3-630-87629-0