Ein Hörbuch gefällig?

Obwohl ich beruflich und in meiner Freizeit sehr häufig mit ihnen in Berührung komme – tatsächlich höre ich weit mehr Bücher, als dass ich sie lese – behandeln gerade einmal vier meiner mittlerweile über 80 Rezensionen auf diesem Blog Hörbücher. Der Grund ist einfach: Wenn ich im Job mit ihnen zu tun habe, dann verfolge ich sie mit einer anderen „Brille“ und wenn ich sie beim Aufräumen höre, dann, um abzuschalten und nicht, um mir nebenbei Notizen zu besonders tollen oder problematischen Stellen zu machen. Es ist nun einmal wesentlich einfacher, einen Klebezettel zu setzen oder kurz in einem Buch zurückzublättern, als in einer Audiodatei die passende Stelle wiederzufinden – wenn man sie denn überhaupt notiert hat. Und genau wie es sich mit den Büchern verhält, die ich lese, möchte ich nicht zwanghaft jedes der Hörbücher, die ich konsumiere, rezensieren. Doch hin und wieder gerate ich dann doch an die ein oder andere Perle, einen besonders überraschenden oder „ganz okay“-Titel, der mich trotz seiner „lala“-Haftigkeit weiter beschäftigt und um den es schade wäre, ihn hier unerwähnt zu lassen…

Lange Rede, kurzer Sinn: Klappe die erste für eine kleine Hörbuchrunde! Heute im Programm: Drei Titel bzw. Reihen mit unterschiedlichsten Genres und Zielgruppen, die mich jedoch allesamt schwer begeistern konnten…

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Die verschwindende Hälfte

Einst waren sie eins. Stella und Desiree Vignes, die Zwillinge von Mallard, einem Ort so unbedeutend, dass er auf keiner Karte zu finden ist. Beide schwarz und doch so hell, dass sie weiß sein könnten. Wie alle in diesem seltsamen Ort voller hellhäutiger Schwarzer, für die es nichts wichtigeres als ihre Hautfarbe gibt. Doch dann sind die Zwillinge auf einmal fort. New Orleans, die kommen zurück, sagen die Leute. Doch dort verlieren sie einander. Desiree heiratet den dunkelhäutigsten Mann, den sie finden kann und Stella wird eine Weiße. Der Kontakt bricht ab. Desiree muss in die verhasste Heimat fliehen, im Gepäck das einzige schwarze Kind in einer Stadt voller Schwarzer. Wo ist Stella? Spürt sie nicht das klaffende Loch in sich? Zwei Jahrzehnte wird es dauern, bis sie die Antworten auf diese Fragen findet…

Vielleicht habt ihr das Cover bereits auf dem ein oder anderen Blog gesichtet und überlegt, euch das Buch zuzulegen, hadert aber mit der Dicke und Schwere des Themas. Denn „Die verschwindende Hälfte“ hat es wahrlich in sich. Die Geschichte und ihre Charaktere gingen mir derart unter die Haut, wie ich es zu Beginn niemals erwartet hätte. Ja, nach dem ersten Drittel dachte ich noch: „Was kann da jetzt noch kommen?“ – wie sollte ich doch überrascht werden. Es ist eines dieser Bücher, die immer besser und besser, tiefer und komplexer werden, neue Themen eröffnen, in ihrer Fülle zunächst gar als zu viel erscheinen, aber am Ende doch genau richtig sind, sodass ich es schließlich noch beeindruckender fand als zuletzt Regina Porters „Die Reisenden“

Es ist die Geschichte von Stella und Desiree ebenso wie die ihrer Töchter. Und sie tut weh. Lässt hoffen, ja, anfeuern und gleichzeitig Bangen: die Geschichte darf – muss – nicht einfach enden. Brit Bennett enttäuscht uns nicht. Und Tessa Mittelstaedt liest mit ihrer präzisen, eleganten Art derart einfühlsam und zugleich distanziert von der inneren Zerrissenheit und Resignation der Charaktere, dass ich sicher bin, niemand hätte den Ton der Geschichte besser treffen können.

„Die verschwindende Hälfte“ ist eine große Empfehlung für alle, die bereit sind, sich nicht nur mit Farbe auseinanderzusetzen, mit den Folgen der amerikanischen Rassentrennung, mit Emanzipation und Gender, sondern auch mit der allgegenwärtigen und zugleich unlösbaren Frage um Identität, Identität und Herkunft, Identität und Familie, Identität und die Frage: Was wirst du, was musst du hinter dir lassen um zu dem Menschen zu werden, der du sein willst? Und war es das am Ende wert?

Brit Bennett | Die verschwindende Hälfte | Autorisierte Lesefassung | Aus dem amerikanischen Englisch von Robin Detje und Isabel Bogdan | Gelesen von Tessa Mittelstaedt | Argon Verlag, in Zusammenarbeit mit rbbKultur | ISBN: 978-3-8398-1816-9

Lieber lesen? Das Buch ist erschienen bei Rowohlt

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Der kleine Vampir

Wer hier noch eine Beschreibung braucht, hat in seiner Kindheit definitiv etwas verpasst. Die Geschichten um Anton Bohnsack, Rüdiger von Schlotterstein, den kleinen Vampir und seine Schwester Anna sind Kult. Wer heute noch einmal in die Abenteuer der drei eintauchen, mit Rüdiger um Olga schmachten oder ins Jammertal reisen, Lumpi das Kegeln beibringen, oder Geiermeier und Schnuppermaul das Handwerk legen will, kann dies nun mit den neuen Hörbüchern vom Argon Verlag, gesprochen von der einzig wahren Katharina Thalbach, der man den Spaß am Stoff in jedem Moment anhört. Als wäre ihre herrliche, höchst lebendige Lesung nicht genug, werden einzelne Abschnitte von Musik begleitet, so schaurig-schön und ohrwurmig, dass mir beim Hören ganz warm ums Herz wurde. Sogar etwas modernisiert haben sie die Geschichte an der ein oder anderen Stelle, immerhin erschien der erste Band 1979… Bisher sind die ersten sieben Bücher vertont, ich drücke die Daumen, dass wir auch die restlichen 14 mit Katharina Thalbach erleben dürfen!

Angela Sommer-Bodenburg | Der kleine Vampir | Ungekürzte Lesung mit Musik | Gelesen von Katharina Thalbach | Argon Verlag | ISBN: 978-3-8398-4199-0

Lieber lesen? Die Reihe ist erschienen (u.a.) bei Rowohlt

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Der Weg des Schamanen (Survival Quest Serie)

Kommen wir zuletzt zu meiner jüngsten Hörbuchentdeckung, einer (Hör-)Buchserie, auf die ich über Spooks gestoßen bin. Wer die App nicht kennt: wenn du ein Konto auf Spotify, Apple Music, Napster oder Deezer hast, kannst du es mit Spooks verbinden und darüber neue Hörbücher entdecken – denn wenn die Musikstreaminganbieter eine Schwäche haben, dann, all die Hörbücher, die sie kostenlos zur Verfügung stellen, überhaupt zu präsentieren. Wenn man nicht gezielt nach einem Titel sucht, ist es unwahrscheinlich, ohne eine App wie Spooks durch Zufall darauf zu stoßen. Da ich ohnehin bereits dabei bin, kann ich euch am Ende des Beitrags ja einmal verschiedene Hörbuchplattformen vorstellen! Kommen wir jedoch vorerst zu meiner Neuentdeckung zurück…

Als Daniel wegen einer Wette versehentlich nicht den städtischen Testserver, sondern das echte System hackt, wird er zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Um Ressourcen zu sparen, werden Gefängnisaufenthalte jedoch in Spielkapseln abgesessen, welche die Verurteilten in das beliebte Online-Rollenspiel Barliona schicken, wo sie fortan abgeschirmt von den regulären Spielenden Erz in einer Mine abbauen müssen. Als wäre dieser Ärger nicht genug, werden Dan die unbeliebte Klasse „Schamane“ sowie der Beruf „Juwelier“ zugewiesen und der Ärger mit anderen Häftlingen lässt nicht lange auf sich warten. Genug Gründe um zu resignieren, könnte man meinen, gäbe es da nicht eine Möglichkeit, in die normale Spielwelt zu wechseln…

Tatsächlich handelte es sich bei „Der Weg des Schamanen“ um mein erstes Buch des Genres LitRPG, in dem Regeln von Online-Rollenspielen mit Fantasy bzw. Science Fiction Geschichten kombiniert werden. Ich war zwar nie eine große World of Warcraft Spielerin, aber Skyrim und später Elder Scrolls Online habe ich dann doch zeitweise mitgenommen. Insofern sind Begriffe wie NPC, Quest, Boss, Tank, Clan, Mana, etc. nichts neues für ich und so fühlte ich mich im mittelalterlichen High Fantasy Setting von Barliona mit Orks, Zwergen und allerlei Videospielmechaniken (etwa dem regelmäßigen Vorlesen der Stats) pudelwohl.

Für LeserInnen, die vorher nie etwas mit RPGs zu tun hatten, kann der selbstverständliche Umgang mit den Begrifflichkeiten zunächst sicher überfordernd wirken, allerdings werden sie im Laufe der Zeit auch erklärt – daran sollte das Hörvergnügen also nicht scheitern. Wenngleich ich davon überzeugt bin, dass gerade diese Nostalgie, die während des Hörbuchs in (ehemaligen) SpielerInnen hochkommt, ihm einige Zusatzpunkte verschaffen und vor allem zum Durchhalten animieren dürfte. Denn so richtig an Fahrt nimmt Band 1 erst langsam auf, da ein Großteil davon in der Mine spielt und sich mit hochleveln beschäftigt.

Doch lasst mich euch versichern: Es ist ganz einfach herrlich, Dans Bewunderung und Ärger für bestimmte Kniffe der SpieleentwicklerInnen zu verfolgen, typische ungelenke NPC-Verhaltensweisen wiederzuerkennen und ihn dabei anzufeuern, stumpf seine Fähigkeiten zu erhöhen. Mich hat die Reihe derart in ihren Bann geschlagen, dass ich die ersten drei Bände, die zusammen auf immerhin 46 Stunden kommen, innerhalb von einer Woche in jeder freien Minute durchgehört habe. Band vier sackt in meiner Wahrnehmung aus verschiedenen Gründen etwas ab, doch ich werde mich dem Sog von Thomas Balou Martins fesselnder Lesung ohne Zweifel nicht so bald entziehen können. Nun, gezwungenermaßen doch, da mehr Bände bisher noch nicht auf Deutsch verfügbar sind, doch die angedeuteten Negativpunkte werden mir sicher über die Warterei hinweghelfen.

Da wären etwa die Tatsache, dass Dan im Laufe der Bände so gut wie alles gelingt, obwohl es bei seinem Level unmöglich sein sollte – das weiß auch der Autor und schreibt ihm den einen oder anderen deus ex machina-Moment hinein. Besonders im vierten Teil setzt dahingehend ein gewisser Ermüdungseffekt ein, denn so viel Glück kann keiner haben. Der andere, mich weitaus mehr ärgernde Grund, der sogar fast dafür gesorgt hätte, dass ich die Reihe abgebrochen hätte, ist das absolut furchtbare Frauenbild unseres Protagonisten und der allgegenwärtige Sexismus vor allem in den ersten drei Bänden. Einmal abgesehen, dass im ersten Band nur eine einzige Frau kurz am Anfang auftaucht und auch in den Folgebänden weibliche SpielerInnen und NPCs eine Seltenheit sind, fielen Aussagen wie die folgenden, die mich zur Weißglut trieben:

„Frauen. Egal ob echt oder NPC, je exklusiver die Kreise, in denen ein Mann verkehrte, desto interessanter wurde er.“
„Man konnte Frauen einfach nicht trauen.“

Doch nicht nur Frauenfeindlichkeit kann unser lieber Dan, denn wenn sie geil aussehen, sind sie ja doch zu etwas zu gebrauchen:

„Was immer sie in Wirklichkeit sein mochte, hier und jetzt war sie eine wunderschöne verunsicherte Frau. Es wäre falsch gewesen, sie nicht zu küssen.“
„Ich will ganz ehrlich sein. Ich spürte ein gewisses Begehren, meinen Spaß mit diesem Mädchen zu haben, sie zu umarmen und ihre angenehme Wärme über an meinem Körper zu fühlen, nicht nur an meiner Hand. Aber ich beherrschte mich.“

Was zum Teufel?! Toxic masculanity at it´s best, würde ich mal sagen. Wie konnte so etwas übergriffiges und abstoßendes durchs Lektorat rutschen? Es ist eine Übersetzung und folglich hat der deutsche Verlag da nur bedingten Einfluss, aber dennoch… Diese paar Sätze, die dann doch mal die wenigen vertretenen Frauen betreffend fielen, hatten es in sich, wobei sie – das muss ich hier festhalten – nicht geballt in einem Band, sondern aus Teil 1 bis 3 stammen. Ironisch, wie ausgerechnet die Tatsache, dass ein starkes Geschlechterungleichgewicht herrscht, dafür sorgt, dass der Sexismus nicht überhandnimmt…

Dennoch: Wenn wir von diesen Frauen objektifizierenden oder anderweitig herabwürdigenden Momenten absehen, ist die Survival Quest-Serie absolut hörenswert. Ich habe definitiv ein neues Genre für mich entdeckt. Wenngleich ich noch unschlüssig bin, ob ich einen derart sexistische Phrasen verbreitenden Autor in Zukunft unterstützen möchte…

Vasily Mahanenko | Der Weg des Schamanen | Aus dem Russischen von Carola Kern | Gelesen von Thomas Balou Martin | Lübbe Audio | ISBN: 978-3-8387-8920-0

Lieber lesen? Das Buch ist erschienen bei Bastei Lübbe

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Zum Schluss widmen wir uns wie angekündigt noch einmal kurz meinen Hörbuchplattformfavoriten. An erster Stelle steht hier für mich Spotify & Co. in Verbindung mit Spooks, da dort keine weiteren Gebühren anfallen. Allerdings besteht hier natürlich der Nachteil, dass man oft lange warten muss, bis das gewünschte Hörbuch verfügbar ist. Hier greifen Streamingplattformen wie Bookbeat oder Nextory, für die man monatlich einen bestimmten Betrag zahlt, dann aber unbegrenzt aus einer schier unendlichen Auswahl Hörbücher (zum Teil auch exklusiv vor allen anderen) auswählen kann. Für VielhörerInnen sind diese beiden Apps definitiv eine Überlegung wert – beide haben verschiedene Preismodelle ab 9,99€. Nextory schwächelt zwar noch etwas bei der richtigen Genrezuteilung, hat aber dafür zahlreiche E-Books im Programm, die man mit dem Abo kostenlos lesen kann. Natürlich gibt es auch hier Titel, die erst einmal gar nicht ins Streaming kommen und stattdessen exklusiv bei Download-Anbietern wie Audible zu erwerben sind. Hier zahlt man monatlich 9,95€ für den Zugang, kann sich aber im Vergleich nur ein Hörbuch kostenlos herunterladen und muss weitere Titel kaufen. Dafür sind sie dann jedoch nicht nur geliehen wie bei Bookbeat und Nextory, sondern dein Eigentum. Im Falle von Audible gibt es außerdem noch eine Reihe an Podcasts kostenlos zu entdecken, wenn man über das Abo verfügt. Da Audible aber zu Amazon gehört und viele den Konzern nicht unterstützen möchten, gibt es neuerdings eine tolle Download-Alternative: Thalia! 9,95€ kostet hier das monatlich kündbare Abo, bei dem ihr sogar bis zu zwei Hörbücher pro Monat kostenlos hören könnt…

Wer einen Blick hinter die Kulissen der Hörbuchwelt wagen möchte, der ist herzlich eingeladen, einmal bei meinem Podcast vorbeizuschauen, wo ich zwei Mitarbeiterinnen des Argon Verlags zu ihrem Alltag im Lektorat und Vertrieb befragt habe.

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