Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep

»Selbstverständlich sind wir […] mehr als nur Geschichten, aber irgendwo müssen wir schließlich anfangen, und es gibt weit schlechtere Anfänge als: ›Kapitel eins. Ich komme zur Welt. Ob ich mich in diesem Buche zum Helden meiner eigenen Leidensgeschichte entwickeln werde oder ob ein anderer diese Stelle ausfüllen soll, wird sich zeigen.‹« S. 582

Nicht wenige bezeichnen diese ersten zwei Sätze aus »David Copperfield« als die vollkommensten der Literaturgeschichte, und in der Tat spielen Charles Dickens und seine Werke in meiner jüngsten Lektüre eine nicht unwesentliche Rolle. Doch auch jene, die nie eines seiner Bücher gelesen haben, kommen auf ihre Kosten. Ich muss es wissen, immerhin bin ich eine von ihnen! Und ich… bin mal wieder verliebt: Ein Buch über Bücher – was auch sonst. 😉

Roberts Leben könnte so einfach sein: tagsüber als Anwalt vor Gericht, abends in trauter Zweisamkeit mit seiner Partnerin Lydia. Wäre da nicht Charly – zerstreuter Literaturdozent, Wunderkind und zu allem Unglück auch noch sein Bruder –, der ihn seit seiner Rückkehr aus Oxford regelmäßig aus dem Schlaf klingelt, weil er in der Klemme steckt. Denn Charly ist kein normaler Literaturwissenschaftler, er erweckt Buchcharaktere zum Leben. Und die sind nicht immer freiwillig dazu bereit, in ihre Geschichte zurückzukehren… Als wäre es damit nicht genug an Schlamassel, hetzt plötzlich irgendjemand mordlüsterne, von einer neuen Welt faselnde AntagonistInnen auf die beiden. Und was hat es mit dieser unsichtbaren Straße auf sich, in der Dorian Gray, Sherlock Holmes, Lancelot, die weiße Hexe und gleich fünf Darcys wohnen..?

»Im Alter von zwei Jahren begann Charly, meine Bücher zu lesen. Mit drei las er die meiner Eltern. […] Mit vier fing er an, Menschen und Gegenstände aus den Büchern zu zaubern.« S. 22f

Es gibt Bücher, in denen fühlt man sich einfach wohl. Die schlägt man auf und wird Teil ihrer Welt, stolpert mit großen Augen durch die Straßen und möchte die Charaktere allesamt einmal herzlich knuddeln. So wurde »Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep« zu meinem täglichen Begleiter, denn dieses Buch ist wahrlich kein Titel, den man am Stück liest. Die 600 Seiten sind hier nur eine Seite der Medaille, denn auch, wenn man mitnichten behaupten kann, dass die Handlung steht, so entfaltet sie sich doch verhältnismäßig langsam, der Spannungsbogen bleibt flach und wird den ein oder anderen zum Absprung ermutigen. Denn der Schwerpunkt dieses Romans ist nicht allein im Gefecht zu finden, sondern in etwas anderem, weniger offensichtlichem, doch umso kraftvollerem: der Familie.

Es ist die Geschichte zweier Brüder, der eine genial, doch furchtbar unsicher, stets mit einer Entschuldigung auf den Lippen, der Robert bewundert und einfach nur gemocht werden will; dieser wiederum beschließt, eingeschüchtert von Charlys Brillanz, auf ihn herab zu sehen, ihn als Quälgeist und hilfloses Ärgernis wahrzunehmen, sich allein auf seine Schwächen zu konzentrieren… Und genau hier kommt die Originalität der Entscheidung zum tragen, die Handlung nicht aus der offensichtlichen Perspektive, der von Charly, dem Beschwörer, dem Helden, zu schildern, sondern aus der seines Bruders. Das ist der entscheidende Kniff, der das Buch zu etwas anderem als einer lauen Fantasy-Reise macht. Zu etwas mit Herz.

»Verschwinden Sie. Oder Sie bekommen meinen Zorn zu spüren, das schwöre ich aus den tiefsten Tiefen meiner sturmgepeitschten Seele.« (Heathcliff) S. 303

Mutig, mögen nun einige sagen, als AutorIn eine Straße voller bekannter Buchcharaktere zu erschaffen, sie aufeinanderprallen zu lassen und sich zwangsläufig dem Vorwurf der Verfälschung auszusetzen. Doch hier bediente sich H. G. Perry eines Tricks, der dank ihrer Weltenerklärung für eine Menge Spaß sorgt: Prinzipiell kann jeder Figuren aus Büchern lesen, wenn die Verbindung stark genug ist. Und da jeder Mensch ein Buch und seine Charaktere unterschiedlich liest, können verschiedene Interpretationen nebeneinander existieren. Etwa fünf Mr. Darcys. Allesamt mit Schmalzlocke auf der Stirn, mal schlicht unhöflich, mal schüchtern interpretiert. Ein Geniestreich – wäre da nicht die hin und wieder zu dick aufgetragene Humorschicht, um nicht zu sagen Albernheit, die großen Fans mancher Charaktere einen Schauer über den Rücken fahren lässt. So schlecht könnte nun doch wirklich niemand meinen Lieblingscharakter interpretieren?! Doch bringt man es erst über sich, akzeptiert diese Karikaturen (Favorit: Heathcliff mit wortwörtlich brennenden Augen) und erwidert das Augenzwinkern Parrys, so erwarten einen ein herrlicher, charaktertypischer Wortschatz mit versteckten Zitaten, unwirkliche Dialoge (immerhin sind es noch immer Figuren) und ein großer Strauß an… Herzlichkeit.

»Wir lieben Dickens, weil er über Wahrheiten schreibt, während der Großteil der zeitgenössischen, postmodernen Literatur behauptet, es gäbe keine Wahrheit.« S. 581

»Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep« ist erfrischend liebenswert und lag mir im ein ums andere Mal überraschenden Finale schwer auf dem Herzen – die Titelwahl wird man erst im Nachhinein wahrhaft zu bewundern wissen. Parrys Welt ist schlüssig, voller Ideen und Kreativität, voller Witz und Neugier und lässt mich keine Seite missen wollen, obwohl so viel nicht passiert ist. Müsste ich das Buch in einem Satz zusammenfassen, so ist es eine herzerwärmende, humorvolle Geschichte über zwei Brüder, die zueinander finden… und dann gibt es noch Figuren, die ihren Büchern entsteigen und die Welt erobern wollen. Klassiker-Neugier vorprogrammiert!

Vielen Dank an den Heyne Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!

H. G. Parry | Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep | Aus dem Amerikanischen von Michael Pfingstl | Heyne Verlag | 608 Seiten | 14,99 € | ISBN 978-3-453-32068-0

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