Im Zeichen der Mohnblume

»Jeden Krieg, den wir mithilfe der Götter geführt haben, haben wir mit schrecklichen Folgen gewonnen. Es gibt einen Preis. Es gibt immer einen Preis.« S. 300

Herrje, was habe ich mich vor dieser Rezension gedrückt, sie vor mir hergeschoben, immer neue und neue Titel dazwischengesetzt, nur um mich nicht mit diesem Buch auseinandersetzen zu müssen. Diesem 673-seitigen Buch, dass ich nach Erhalt begeistert innerhalb von zwei Tagen nahezu ausgelesen hatte, nur um es dann frustriert für mehrere Wochen zu pausieren… Kein Einzelfall, wie ich gestehen muss. Denn lasst mich euch etwas über meine wohl schändlichste Angewohnheit beim Geschichtenkonsum berichten…

Ihr kennt sie, diese Bücher, diese Serien, die euch mitreißen, die euch begeistern, die euch eure heimlichen Lieblinge neu ordnen lassen, während ihr sie noch erlebt, bis… alles den Bach runter geht. Dramatisch ausgedrückt. Eine Figur stirbt auf höchst lieblose Weise, Charaktere werden bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, die Geschichte nimmt eine Wendung, die sich wie ein Fremdkörper anfühlt, jedenfalls: irgendetwas passiert, dass eure jüngst enthusiastisch gewachsene Vorstellung der perfekten Geschichte abrupt zunichtemacht. Das Problem: Man kann sie jetzt nicht direkt hassen und für schlecht erklären, weil doch der Beginn derart vielversprechend war. Aber weiterzulesen bzw. weiterzuschauen und Gefahr zu laufen, sie sich noch madiger als ohnehin schon zu machen, das geht auch nicht. Meine Strategie in diesen Fällen lautet: Rückzug. Cut. Sich-beleidigt-in-die-Ecke-setzen-und-um-das-Potenzial-weinen. Mindestens für ein halbes Jahr. Dann ist der Herzschmerz abgeklungen, Akzeptanz für das Unumkehrbare gewachsen und die Geschichte kann fortgesetzt werden. Nun, ein halbes Jahr Regenerationszeit hatte ich in diesem Falle nicht, doch immerhin genug, um mich dazu zu überwinden, die restlichen 100 Seiten zu lesen und nun von meiner Zwiespältigkeit berichten zu können…

Die Eliteakademie von Sinegard ist Rins einziger Ausweg aus ihrem von Drogen, Ausbeutung und Armut geprägten Leben. Doch als sie wider aller Wahrscheinlichkeit die Aufnahmeprüfung besteht, muss sie erkennen, dass der Kampf gerade erst begonnen hat. Neue Feindschaften… aber auch Freundschaften kreuzen ihren Weg. Den Weg nach oben. Denn sie ist stark, sie ist ehrgeizig und sie ist bereit Opfer zu bringen, um ihr Ziel zu erreichen. Doch dann steht der Krieg vor den Toren der Stadt und damit eine Zukunft voller Gewalt und Grauen, in der das Mädchen sich selbst zu verlieren droht und eine gefährliche Macht in sich entdeckt, die sie nicht begreift…

Um meine Frustration nachvollziehen zu können, ist es wichtig, zu verstehen, was dieses Buch ist und was es nicht ist. Denn Cover und Klappentext der deutschen Ausgabe vermitteln hier eher den Eindruck von altbekannter Jugendfantasy, à la »durchboxen einer Außenseiterin an einer speziellen Schule« (Waffenschwestern, Nevernight, Harry Potter, etc.), eben nur im etwas anderen kulturellen Gewandt, was es darum für mich als Ostasienfan interessant machte – einmal abgesehen von den vielen positiven Kritiken… und tatsächlich liegt man mit dieser Einschätzung auch gar nicht so falsch, WENN man nur die erste Hälfte des Buches betrachtet.

Wir lernen eine unfassbar zielstrebige, starke, intelligente, aber auch impulsive und manchmal naive junge Frau kennen, die ihren Platz in der Welt sucht und alles tut, was nötig ist, um nicht in ihr früheres Leben zurückkehren zu müssen. Diese Entschlossenheit und Furchtlosigkeit vor drastischen Maßnahmen verschärft sich, als der Krieg sie abrupt aus dem geschützten Akademie-Alltag in die brutale Wirklichkeit reißt, der nicht nur droht, ihr Land zu zerstören, sondern auch sie selbst. War ich Rin anfangs noch zugetan und sprach einige ihrer fragwürdigeren Entscheidungen ihrer harten Vergangenheit zu, so entwickelte sie sich während des Krieges und damit der zweiten Hälfte zu jemandem, dessen Handeln ich immer weniger nachvollziehen konnte und nicht nur nervig, sondern auch unausstehlich fand. Hier sind wir auch schon beim Stichwort: Zweiter Teil. Denn nahezu all meine Unzufriedenheit resultiert aus dem Bruch, der mit Kriegsbeginn in der Geschichte Einzug hält.

Dieser Bruch entfaltet sich auf verschiedenen Ebenen: Charakteren, Handlung und Tonalität. Vor allem letztere sorgt für allerhand Irritation und das Gefühl, auf einmal ein anderes Buch zu lesen. Die verstörend intensive Schilderung von Gewalt, von Vergewaltigungen, von Folter und schließlich auch Völkermord war angesichts des vorangegangenen Schreibstils in keiner Weise vorhersehbar. Ein scheinbar harmloses Jugendbuch wird plötzlich zum brutalen Erwachsenenroman, wo Babys mit bloßen Händen in der Luft zerrissen, Frauen bis zum Tod vergewaltigt und Schwangeren die Bäuche aufgeschlitzt werden. Versteht mich nicht falsch: Natürlich muss der Ausbruch eines Krieges Auswirkungen auf unsere Protagonistin haben, das allgegenwärtige Grauen und Kriegsverbrechen dürfen nicht spurlos an ihr vorbeigehen oder gar unerwähnt bleiben. Die hier vorliegenden detaillierten Schilderungen könnten »problemlos« in einem Roman verarbeitet werden, in einem anderen Roman, der eben diesen Ton von Beginn an führt. Wenn ich einen Thriller lese, dann gehe ich mit anderen Erwartungen an Schreibstil, Details und Stimmung heran als an eine Liebesgeschichte. Und wenn eben diese Erwartungshaltung, die während der Lektüre weiter gefördert wird, plötzlich durchbrochen wird, dann sorgt das zwangsläufig für Irritation bei der Leserschaft. Dieser extreme Tonalitätswechsel zur zweiten Hälfte fügte sich nicht in das Vorangegangene, wirkte wie ein Fremdkörper, als würde ich zwei unterschiedliche Bücher lesen. Und das, wie schon angedeutet, nicht allein der Stimmung, sondern auch der Handlung und Charaktere wegen.

Offensichtlich ändert sich Rins Alltag mit Kriegsbeginn, sie zieht an die Front, doch die bisher fließende, pointierte Handlung kommt ins Stocken, indem sie sich an mancher Stelle zu viel, an anderer wiederum zu wenig Raum gibt. Und das betrifft auch die Charaktere, zum einen (und das regte mich wirklich auf), weil die AntagonistInnen (ob in Form der feindlichen Nation oder in Persona) viel zu eindimensional wirken. Besonders bitter stieß mir das in Massakerszenen auf, bei denen sie wie unmenschliche Monster dargestellt werden, während die eigenen Taten unreflektiert bleiben. Es bräuchte dringend Sichtwechsel in diese Richtung, um hier Licht ins Dunkel zu bringen und mehr als nur ein plattes Feindbild zu erschaffen. Zum anderen schwächelte die Charakterzeichnung, weil die Nebenfiguren in der zweiten Hälfte zu großen Teilen »ausgetauscht« werden. Was an sich nicht dramatisch wäre, immerhin ergibt das im Szenario Sinn, würden die zuvor liebevoll und sehr plastisch eingeführten Figuren nicht zum Großteil lieblos zur Seite geworfen werden. Zumal es Kuang nicht schafft, die neuen Charaktere, die durchaus interessant erscheinen, auch nur annährend ähnlich LeserInnen-bindend aufzubauen wie die vorherigen…

Es dürfte deutlich geworden sein: Aus meiner Sicht fügen sich die zwei Teile nicht organisch in- sondern prallen in ihrer unterschiedlichen Herangehensweise hart aufeinander. Wie ich bereits sagte: Es fühlt sich eher nach zwei unterschiedlichen Büchern an und damit, als bräuchte der zweite Teil einen anders geschriebenen ersten Teil und umgekehrt, wobei ich beide grundsätzlich gern lesen würde, nur eben nicht in dieser Kombination.

Nachdem ich mich nun derart darüber ereifert habe, was mir an »Im Zeichen der Mohnblume. Die Schamanin« nicht gefällt, ist es mir ein dringendes Bedürfnis, auch seine Stärken herauszustellen, denn immerhin verfiel ich durchaus in Schwärmereien und urteile hier nur deshalb so hart, weil es noch besser hätte sein können. Stärken wie die Charaktere, die man immer noch ein wenig näher kennenlernen möchte, als zugelassen wird, wie den Schreibstil, der einen rasch durch die Geschichte trägt, wie die vergessene Magie, die von rachsüchtigen Göttern stammt. Vor allem aber ist es die Welt, die mich begeisterte, das ans alte China angelehnte Kaiserreich mit Provinzen wie Hahn, Drache, Hase und dem an Japan erinnernden Feind der Föderation Mugen. Zufall ist das nicht, denn die Autorin ließ sich bewusst von der bewegten Geschichte der Länder und ihrer inneren wie äußeren Konflikte beeinflussen. Ihr Fachwissen, das sich im Studium der Sinologie und internationalen Geschichte mit Schwerpunkt auf chinesischen Militärstrategien, kollektiven Traumata und Kriegsdenkmälern begründet, durchzieht das gesamte Buch, von fantastischen Diskussionen über Sunzis Lehren über Misstrauen unter den Generälen hin zu Kriegsverbrechen strotzt es vor Leidenschaft für die chinesische Kultur. Es ist bemerkenswert, wie unglaublich fassbar ihre Welt aufgrund unzähliger Details erscheint, man merkt jeder Seite an, dass hier ein schier unendlicher Wissensfundus zugrunde liegt. Beachtlicher umso mehr, da es sich bei dem Titel um ein Debut handelt!

Nichtsdestotrotz verbleibe ich bei einer Warnung für diejenigen, die sich bei exzessiver Gewalt und Drogenkonsum getriggert fühlen, zumal die Reflektion solcher Taten zu oft untergeht und Konsequenzen ausbleiben. Zumindest in diesem ersten Buch, denn schon im September erscheint der zweite Band. Ob ich ihn lesen werde? Vielleicht. Denn etwas hat diese düstere Geschichte über Hass, Schmerz, Machthunger und Stolz in mir hinterlassen, das mich dazu veranlasste, diese lange Rezension immer weiter hinauszuzögern…

Vielen Dank an den blanvalet für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!

R. F. Kuang | Im Zeichen der Mohnblume. Die Schamanin | Aus dem Amerikanischen von Michaela Link | blanvalet | 672 Seiten | 16,00 € | ISBN 978-3-7341-6222-0

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