Thea. Tagebuch

»Der Himmel, der vorher klar war, wurde plötzlich von weißen Kondensstreifen durchzogen, längs und quer, daß er aussah wie ein kariertes Tuch. Und schon bumste es tüchtig«

Frühjahr 1945. Behauptungen über die kurz bevorstehende Wende im Krieg tönen hohl aus dem Radio. Nicht einmal die 18-jährige Thea glaubt mehr daran, dass alles gut werden wird. Bald ist sie eine von ihnen, ahnt sie, jenen armen Seelen, die am Haus vorbeiziehen, die ihre Heimat aufgeben mussten und bei minus 10 Grad, ihre erfrierenden Kinder im Arm, gen Westen flüchten. Doch die Familie Lemkes, auf deren Hof sie als Mädchen für alles ihren Kriegsdienst ableistet, reagiert zu spät. Konnte ihr Flüchtlingszug Wittenberg noch passieren, wird er im nächsten Dorf von Schüssen und Granaten empfangen.  Zurück also in die Lutherstadt… die kurz darauf kampflos den russischen Soldaten übergeben wird – wie nahezu alles, das sich in ihrem Besitz befindet.

Diese ersten Erfahrungen Theas mit den russischen Besatzern, ihre Rückkehr zum geplünderten Rittergut der Lemkes und schließlich ihren Marsch ins Ungewisse begleiten wir in »Thea. Tagebuch«, einer Graphic Novel, die, kommentiert und illustriert von ihrer Tochter Christa Unzner, eine Wirkung entfaltet, die ich so nicht erwartet hatte. Denn Theas Stimme ist jung, geschmiedet im Nationalsozialismus. Doch nun, wo alles endet, beginnt sie zu sprechen.

»Andererseits schimpfen sie die Amerikaner Barbaren und Mörder, weil sie 18jährige Jungen vor dem Kriegsgericht zum Tode verurteilt haben. Hätten wir nicht genau dasselbe getan? Was wurde denn mit den französischen und belgischen Frauen gemacht und Jungen gemacht, als sie vom Fenster aus des Nachts deutsche Soldaten getötet hatten? Für jeden Soldaten haben sie 3 der Zivilisten getötet, zur Strafe wie es hieß. Warum machen sie jetzt so ein Geschrei, wenn es uns nun genauso geht?«

So wie ihr Alltag zwischen Bombenalarm und üppigem Abendmahl erstaunte mich Theas ambivalenter Charakter. Einmal die junge Frau, die anfänglich vom »Feind«, vom »armen Deutschland« redet, doch langsam zu begreifen beginnt; die sich einem distanziert-empathischen, einem aufsaugenden Blick öffnet und ihrer Furcht entschlossen entgegenstellt. Dann wiederum das träumende Mädchen, das sich nach Liebe sehnend ihren Fantasien hingibt, das Scarlett O’Hara ein eitles Ding schimpft und im selben Atemzug erkennt, wie ähnlich sie ihr doch ist… und das sich von einem Soldaten das Küssen beibringen lässt.

»Die Tafel Schokolade für mich, die er in seiner Brusttasche hatte, haben wir ganz und gar zerdrückt.«

Vielleicht sind die Träumereien notwendig, um sich dem Schrecken entgegenstellen zu können, wenn die Radios verstummen und Gerüchte zur einzigen Informationsquelle werden. Rosarote Gedanken gegen die Angst, nach Russland verschleppt zu werden, gegen die ständige Ungewissheit, wo man am nächsten Tag sein wird, gegen die brennenden Autos und die in den Graben geworfene Ausrüstung der kriegsmüden Soldaten, gegen die zudringlichen Blicke der Russen, gegen die Deutschen, die sich im Schuhgeschäft um die letzten Stücke prügeln, gegen die Erleichterung, die still aufsteigt, als Hitler endlich tot ist. Und schließlich Kraft für den 100km langen Marsch nach Hause, nach Berlin, zu ihrer Mutter, wenn sie denn noch lebt…

»Ich glaube nicht an einen gerechten und richtenden Gott, […] Gott ist nur fühlen, Gott ist kein Richter, kein Strafender, Gott ist überhaupt kein ›er‹, Gott ist ›All‹, alles, das Weltall. Gott ist in uns und außer uns, Gott lenkt kein Schicksal, er ist selbst Schicksal.«

All diese Eindrücke gebannt auf dicke, bunte Seiten voll mit Tagebucheinträgen und Illustrationen. Collagenartig verbindet Unzner Text und Bild, kombiniert Fotos mit Theas ordentlicher Füller-Schreibschrift und Zeichnungen von ihr wie auch sich selbst, die das Geschehen kommentiert, auf spätere Unterhaltungen verweist und in die historischen Ereignisse einleitet. Das Tagebuch wird zu Literatur. Literatur, die durch ihren Ansatz, ihre Persönlichkeit, zugleich ihre Allgemeingültigkeit heraussticht und durch und durch lesenswert ist!

Vielen Dank an den Mitteldeutschen Verlag für das Rezensionsexemplar!

Christa Unzner | Thea. Tagebuch | Mitteldeutscher Verlag | 88 Seiten | 16,00 € | ISBN 978-3-96311-240-9

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