Ihr Lieben, nachdem es mir in den letzten Wochen gesundheitlich nicht allzu prächtig ging und bekanntlich ein Unglück selten allein kommt, überrollte mich eine gewaltige Leseflaute. Kein Buch, nicht einmal die Liebsten, schaffte ich über wenige Seiten hinaus und warf sie drum allesamt erschöpft in die Ecke. Dann eben eine kleine Sommerpause – einzig unterbrochen von einem Gastbeitrag bei „Die lesende Käthe“. Ob diese Sommerpause nun gänzlich beendet ist, bleibt abzuwarten, doch einen Titel möchte ich euch nun zwischendurch doch vorstellen. Denn dieses eine Buch hat mich als treuer Begleiter durch die schleppende Zeit begleitet und es mir geduldig verziehen, wenn ich mich am Tag nur durch wenige Seiten blätterte. Tatsächlich ist es dazu geradezu prädestiniert, mit seinen vielen kurzen Themenblöcken, der ansprechenden Gestaltung, die einen immer wieder zurücklockt, und der Fülle an Wissen, die man in vielen kurzen Etappen – so bilde ich es mir ein – sicherlich eher verinnerlichen kann als in einem Rutsch.
„Die, die die, die die Dietriche erfunden haben, verdammen, tun unrecht.“ Konrad Duden, S. 159
Wer diesen Blog schon länger verfolgt oder einmal einen Blick in die Begründung zur Namenswahl geworfen hat, der wird wissen, dass ich eine große Schwäche für Bücher über Sprache habe. Vom „versunkene Wortschätze“-Duden über das Fremdwörterbuch hin zu Sprichwörter- und Sprachfaktenbänden tummeln sich bereits einige Vertreter dieser Gattung in meinem Bücherregal – doch keines (und das will etwas heißen, da ich hier für gewöhnlich nur allzu leicht zu erfreuen bin) hat eine solche Begeisterung in mir auslösen können wie das jüngst von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnete Werk „Die Wunderkammer der deutschen Sprache“ aus dem Verlag Das kulturelle Gedächtnis. Tatsächlich hatte ich das Buch schon bei der Veröffentlichung im vergangenen Jahr auf dem Schirm, es aber aus unerfindlichen Gründen (wohl ein ohnehin bereits schon zu beängstigender Stapel an Rezensionsexemplaren) nicht angefragt. Bis es nun als eines der schönsten Bücher ausgezeichnet wurde und wir am Ende doch zueinander fanden…
Und so begab ich mich auf eine abenteuerliche Reise quer durch Deutschland, von Deppendorf über Drogen, siebenmal Elend, dreimal Hölle und elfmal Himmelreich hin zu Weitewelt; wanderte mit falschen Freunden über Eselsbrücken; rannte schreiend an Atmosphair, Hairlich Natürlich, Pony & Clyde und Haarmonie vorbei; lernte die „leichte“ von der „einfachen“ Sprache zu unterscheiden und das „Luden ABC“ Sankt Paulis zu entschlüsseln; erfuhr, welche 50 Wörter die Streber unter den Zweijährigen bei der U7 aufsagen können; wie aus Albert Anton, aus Bernhard erst Bruno, dann Berta wurde und wie Otto Otto blieb; frischte meine sprachwissenschaftlichen Kenntnisse in Sachen Äquivokation auf; wühlte mich durch herrliche Beschimpfungstiraden von DichterInnen über DichterInnen (hier wurde mal wieder deutlich, warum ich Benn-Fan bin); nahm mir vor, mehr Fontane-Code zu sprechen; hüpfte als ahnungslose Bambuse auf einen Eimer und trotzte dennoch in stürmischer See den drei Schwestern…
„Im Deutschen reimt sich Geld auf Welt; es ist kaum möglich, daß es einen vernünftigeren Reim gebe; ich biete allen Sprachen Trotz!“ Georg Christoph Lichtenberg, S. 213
Ich aß mich durch Arme Ritter, Schillerlocken und Nonnenfürzle; schwitzte angesichts der vielen Kuralienregeln, die man in förmlichen Briefwechseln bis ins 19. Jahrhundert zu beachten hatte (man stelle sich vor, man müsste seine ProfessorInnen heute noch in Mails mit „hochgelarte/r“ begrüßen und „gehorsamuntertänig“ verabschieden – und erhält keine Antwort, weil man versehentlich „wohlgelarte/r“ geschrieben hat, was AkademikerInnen ohne Doktortitel vorbehalten war…). Ich traf mich mit Hurenkindern und Schusterjungen im Abklatsch; erlebte, wie Luther das „Machtwort“ und „Lästermaul“ erfand; traf Tiere, die gar keine sind; lachte mich durch fehlgeschlagene Verdeutschungsversuche (ein Hoch auf diejenigen, die sich weigerten, einen Botaniker zum Krautbescheiber, eine Grotte zur Lusthöhle, ein Opfer zur Schlachtgabe und eine Mumie zur Dörrleiche zu erklären); musste 1600€ für die Zungensünde „Am liebsten würde ich jetzt ‚Arschloch‘ zu dir sagen!“ zahlen und lauschte letzten Worten…
„Man kann konjugieren: Ich sterbe, ich werde und ich würde sterben, aber nicht mehr ich starb und ich bin gestorben“ Karl Julius Ploetz
Ihr ahnt es, ähnlich wie in meinem letzten großen Sachbuchhighlight „So stirbt man also“ erwartet einen in der „Wunderkammer“ ein bunter Blumenstrauß an abwechslungsreichen, mal theoretischen, mal spaßigen Themen in allerlei Form: Von kurzen Texten über Listen, etwa zu den Wörtern und Unwörtern des Jahres, hin zu den Lieblingswörtern verschiedener SchriftstellerInnen, zu Deutschlandkarten, die zeigen, wo die Murmel als Märbel, Glugger oder Specker bekannt ist, zu Rätseln oder Tests, die unseren Gehirnschmalz aktivieren…
Nicht trockene, sprachwissenschaftliche Exkursionen, sondern paradoxe Wörter, beliebteste Kosenamen, Zungenbrecher, Begrüßungen (wusstet ihr, dass in Teilen Österreichs die Begrüßung unter Feuerwehrleuten „Gut Schlauch! Gut Wehr! Gut Heil!“ ist?), Anti-Sprichwörter, Scheinanglizismen, Rechtschreibfehler, Seemanns-, Jäger-, Bundeswehrsprache und Gaunerlatein, Sprachvergleiche, Synonyme, besondere Wortperlen und eine Doppelseite voller Blautöne warten in der Wunderkammer darauf, entdeckt zu werden. Und nun stellt euch meine Freude vor, als ich noch dazu auf einige Seiten zum ersten gendergerechten Sprachregelwerk von 1981 durch Marlis Hellinger und Ingrid Guentherodt traf und später sogar dem Gassenhauer begegnete…
„Die deutsche Sprache ist reich; allein sie hat nicht selten einen unnützen Überfluß.“ Friedrich Gottlieb Klopstock
Die „Wunderkammer der deutschen Sprache“ ist ein wahres Füllhorn an interessanten Sprachfakten, die überraschen, die begeistern, die Irrsinniges berichten und Vergessenes umarmen. Die Liebe zum Thema ist auf jeder Seite spürbar, die individuelle Gestaltung eine Wonne für die Augen. Ein Buch, das in das Bücherregal eines jeden gehört, der Sprache liebt. Und so dürfte es niemanden verwundern, dass ich mir „Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch“ aus dem Verlag auch noch zulegen werde…
Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar!
Thomas Böhm/Carsten Pfeiffer (Hrsg.) | Die Wunderkammer der deutschen Sprache | Das kulturelle Gedächtnis | 304 Seiten | 28,00 € | ISBN 978-3-946990-31-4