Tourist

»Auch die Schlussakkorde spielen sich leichter in der Ferne. Die rote Wüste glüht im Abendlicht, während meine Liebe zu dir erlischt. Nach zwölf Stunden Flug und noch nicht angekommen in der neuen Polung nach neun Stunden Zeitverschiebung entdecke ich: Ich mag dich gar nicht.« S. 164

Der Tourist. Lebensgrundlage, notwendiges Übel, willkommene Abwechslung oder einfach nur nervig – ob Anwohnerschaft oder selbst UrlauberIn (denn es sind immer nur die anderen), jeder bildet sich zum unbeholfenen Entdecker und seiner Gefolgschaft eine Meinung. Mario Schneider hat in den letzten 20 Jahren etliche Exemplare dieser Spezies in ihrem natürlich-unnatürlichen Habitat beobachtet und nun in einem Bildband verewigt. Doch lässt sich auch etwas daraus ziehen? Oder ist es eine Sammlung an hübschen, wahrscheinlich angesichts des Themas sogar mitnichten ansehnlichen Fotos ohne doppelten Boden? Das fragte ich mich, als ich »Tourist« schließlich in den Händen hielt. Doch belanglos ist an diesem Bildband nichts. Er weitet die Augen für das Alltägliche, enttarnt romantisierte Vorstellungen und erinnert vor allem an eines: unser aller Menschsein…

»Mario Schneider zeigt seine Protagonisten nicht als objektiviertes Gegenüber, sondern in affektiver Zuwendung im Sinne eines fühlenden Sehens und sehenden Fühlens.« S. 165
Das Museum: Artenreichster Lebensraum des Touristen

So Maike Wetzel im Nachwort und sie hätte es nicht treffender formulieren können. Denn die dargebotenen Fotos sind keine Hochglanzaufnahmen, sondern Schnappschüsse aus dem Moment – genervte Gesichter inklusive. Da holt Mama mitten auf der Piste das Handy raus und tippt mit zusammengekniffenen Augen darauf rum, Papa telefoniert und die Tochter mit ihren Leopardenohren am Helm muss warten. Ein ähnliches Bild, tausende Kilometer entfernt: Frau am Handy, des Vaters Blick ins spanische Panorama, Teenagertochter hat keinen Bock mehr. Überhaupt hat Tourist sein viel mit am Handy sein und Fotos machen zu tun: Ob auf dem Romeo und Julia Balkon gekonnt in Pose gestellt oder allein mit dem Selfiestick – es muss doch festgehalten werden, was für eine gute Zeit man hat. Wie lange man nun tatsächlich für dieses eine Foto gebraucht und ob man seine Umgebung dabei überhaupt wahrgenommen hat, wird im Nachhinein verschönt.

Und während wir uns nun durch konzentrierte Anläufe für das perfekte Instagrambild blättern, begegnen uns Kinder, die zwischen den Blöcken des Holocaustdenkmals in Berlin verstecken spielen, die während einer Rast sabbernd auf dem Schoß ihrer Eltern einschlafen, wir beobachten eine Frau, die von ihrem Mann hochgehoben wird, um über eine Mauer sehen zu können, ein Paar in rotem Cabrio vor einem Hotel in Las Vegas, mit Dolce & Gabbana Sonnenbrillen, verschwitzter und geröteter Haut – denn am Ende ist es doch mehr Schein als Sein, nicht zu vergessen die obligatorische, einem Stadtführer folgende Koreanertruppe und ganz viele genervte, gelangweilte, ratlose, entspannte, müde, konzentrierte, das Make-Up überprüfende, Karten studierende, Fotos aussortierende, auf die Uhr oder das Hinterteil einer Frau starrende, kurz gesagt: echte Blicke.

»Ich wollte die Momente der Überforderung, ja der Ohnmacht vor der schier überwältigenden Fülle an Eindrücken und den immerwährenden Versuchen, sie auf Selfies irgendwie in die Heimat zu transportieren, festhalten. Ich war auf der Suche nach den Momenten der Ruhe und des ersehnten Ankommens. Ich wollte dort sein, wo die Reisenden aufeinandertreffen und sich berühren, wo sie in eine fremde Kultur oder Landschaft eintauchen. Was sind sie? Wer sind wir?« S. 7
…und mittendrin dieses starke Bild!

Auch wenn Mario Schneider seine Motivation im Vorwort und Maike Wetzel den Wert der Bilder im Nachwort meiner Ansicht nach etwas zu pathetisch formulieren, so transportieren die Fotos doch auf einzigartige Art eine Antwort darauf, wer wir sind. Unsere Träume, unsere Sehnsüchte, unser Wunsch nach Geltung, nach Liebe, doch auch Selbstbetrug, Einsamkeit, Unaufmerksamkeit und Blindheit sprechen aus den Pixelhaufen. Es macht Spaß, die Fotos zu betrachten und sich auszumalen, was in den Köpfen der Leute vor sich geht, sich selbst und andere in ihnen zu erkennen, weil die Szenen um alberne Touriposen, von der Sonne geblendetes, angestrengtes Grinsen und Verrenkungen der FotografInnen seltsam vertraut erscheinen. Die Emotionen sickern durch die Momentaufnahmen hindurch, erzählen Geschichten und regen die Fantasie an (gerade für Schreibende erscheinen mir solche Bildbände als willkommene Inspirationsquelle). Insofern betrachte ich »Tourist«, das nebenbei durch drei Kurzgeschichten von Jule Reckow, Maike Wetzel und dem Autor selbst ergänzt wird, als  würdige und zugleich schmunzelnde Annährung an das Thema »Tourist sein«. Ich hätte gern mehr tiefergehende Auseinandersetzungen mit dem Reisen gesehen, die nur hier und da anklingen, doch schließlich ist es ein Bildband und die Fotos sollen für sich sprechen. Zumal die wohl wichtigste Frage gestellt wird: die nach dem, was am Ende übrig bleibt…

»hat […] Hans Magnus Enzensberger recht? Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.Das Authentische verschwindet, weil wir es jagen. Profaner beschreibt der Reiseschriftsteller Paul Theroux den Urlaubseffekt: ›Reisen ist nur im Rückblick eine glamouröse Angelegenheit.‹« S. 164f

Vielen Dank an den Mitteldeutschen Verlag für das Rezensionsexemplar!

Mario Schneider | Tourist | Mitteldeutscher Verlag | 168 Seiten | 28,00 € | ISBN: 978-3-96311-304-8

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