Stichling

Seit Wochen schleiche ich nun um diese Rezension herum, taumelte gar in eine unfreiwillige Blogpause hinein, allein, weil mit jedem neuen Anlauf dieses etwas stärker und drängender in mir erwuchs. Das Gefühl, ungerecht zu sein. Dieses Problem habe ich immer, wenn ich Bücher von Menschen bespreche, die ich persönlich kenne oder wie hier wohlwollend über Social Media verfolge. Person und Werk sind nicht eins.  Theorie, schön und gut, doch das Gefühl bleibt. Ich werfe nun also ergeben die Hände in die Luft und starte diesen letzten Versuch, meine Kritik in Worte zu fassen, diesmal in einem Dialog, der sich so oder so ähnlich in meinem Kopf abspielte…

»»Und keiner von ihnen rannte, schoss, kämpfte und verreckte in diesem Augenblick für einen Kaiser, einen König oder ein Vaterland.« S. 132

Der erste Gedanke: »Braucht die Welt noch einen Weltkriegsroman?«

Der letzte: »Irgendwie…belanglos…«

Belanglos?! Wie kannst du nur? Niemals kann, niemals darf das Thema Weltkrieg belanglos sein.

Das ist es auch nicht.

Was dann?

Die Auseinandersetzung.

Aber du hast es doch recht schnell gelesen.

Nicht einmal ungern.

Hast den Schreibstil genossen!

Durchaus.

Zeigt es nicht die Schrecken des Krieges? Die Angst, den Wahnsinn, die Brutalität, den Schmerz?

Was ist dann also das Problem?

Es ist nichts besonderes daran. Ich habe »Stichling« schon tausendmal gelesen. Tausendmal gehört. Tausendmal gesehen. Alle Stationen, alle Schrecken wurden nach Lehrbuch abgegrast. Dazu die altbekannte Geschichte über einen jungen Mann, der egal ist, denn es könnte jeder sein (das ist ja der Clou), der noch grün hinter den Ohren in den Krieg zieht… und dann: Grauen, Irrsinn, Schmerz.

Hat jetzt etwa Remarque das Monopol auf den 1. Weltkrieg?!

Keineswegs. Die andauernde Auseinandersetzung ist unerlässlich!

Etwa wie in »1917«, diesem neuen Kinofilm?

Du sagst es!

Wie jetzt?

Das Setting allein genügt heute nicht mehr als Geschichte. Wir brauchen etwas neues. Eine Mission. ProtagonistInnen, mit denen wir mitfiebern. Individualität ist nötig, wo Verallgemeinerung allgegenwärtig ist. Das genügt schon. »1917« kenne ich noch nicht, »Stichling« schon vor der Lektüre.

Gut, dann ist es eben inhaltlich nichts neues, dafür aber stilistisch für ein modernes Publikum frisch aufbereitet!

Interessanter Gedanke. In der Tat bringen Aufbau und Schreibstil einen frischen Wind ins Thema. Ersterer durch zwei Zeitebenen:

a) Protagonist August steckt zwischen den verfeindeten Schützengräben in einem Erdloch fest und

b) der Blick zurück, wie kam er hierhin, ins Erdloch, an die Front, in den Krieg, aus dem Elternhaus, dem Bücherwurmturm

und letzterer durch die derbe, bis ins kleinste Detail zerlegende, alle Sinne erfassende, Aufzählungen und Bilder verehrende Sprache.  

Auch wenn sich Schwarz manchmal zu sehr in Beschreibungen verliert, an die Grenze zum Geschwafel stößt und die teils seitenlangen, sachbuchartigen Fakteneinschübe oft nur als unnatürlich und ungelenk eingeflochten bezeichnet werden können, auch wenn bestimmte Formulierungen und Wörter (meine Top 3: sodann, indes, modrig), so schön sie auch sind, durch ihre zehnte Wiederholung an Glanz verlieren, so war dieser literarische, distanzierte, zwischen ich- und personaler Perspektive wechselnde Schreibstil eine Wonne. Doch ein schöner Schreibstil ist nicht genug. Dies war ein Herzensprojekt, inspiriert und geleitet durch des Großvaters Erzählungen – berührend im Prolog eingefangen. Notwendig und wichtig für den Autor. Doch nun ist Platz für etwas eigenes.

Also ein anderes Buch von Florian Schwarz?

Unbedingt! Eines, das von sich lebt!

»Er schloss die Augen und roch die Spuren der letzten Nacht, den Schiefer des Daches, den Basalt und den Bruchstein des Hauses, der sich seit Wochen in der Sonne aufheizte und nächtens die Wärme abstrahlte, die Geranien in ihren hölzernen Fensterkästen und die modrige, erdige Luft, die aus den bodennahen Kellerfenstern des Hauses kühl an seinen Beinen emporstieg.« S. 20

Florian Schwarz | Stichling | Buchfink Verlag | 232 Seiten | 16,99 € | ISBN 978-3-948453-02-2

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