„Seid ihr Ungeheuer? So wie Ursula Monkton?“
Lettie Hempstock ist kein Mensch. Schon gar keine 11-Jährige. Da ist er sich sicher. Aber sie ist auch die erste, die ihm die Hand zur Freundschaft reicht und in eine andere Welt entführt. Eine Welt so fantastisch und rätselhaft, wie er sie nur aus seinen Büchern kennt, wo Namen gehütet und Katzen gepflückt werden und ein Ozean in einen Eimer passt. Eine tückische Welt, die nach seiner zu greifen beginnt, denn seltsame Dinge geschehen in der Nachbarschaft. Und dann bezieht der fleischgewordene Alptraum das Zimmer am oberen Treppenabsatz…
Neil Gaiman ist eine sichere Sache. Nicht die Art sicher, wo man schon beim Blick auf das Cover die ganze Geschichte kennt oder page-turner-AutorInnen-sicher (Logik lassen wir mal außen vor, Hauptsache, es ist spannend). Nein, Gaiman ist die Art sichere Sache, bei der man den Klappentext einfach übergeht, weil er einen oft nur so lala anspricht, das Buch liest und sich unweigerlich in seinem Bann verliert. Denn Neil Gaiman schreibt nicht nur Geschichten, er schreibt einzigartige Geschichten. Geschichten, die sich nur spärlich am Standard-Fundus der Phantastik bedienen und durch ihre (ich finde, dieses Wort trifft es auf den Punkt) Andersartigkeit bestechen.
Der Ozean am Ende der Straße ist eine Geschichte, die sich anfühlt wie ein Wachtraum. Sie hat dieses mystische, märchenhaft-brutale und zugleich Gaiman-typisch verstörende, gepaart mit Charakteren, so herzlich und geheimnisvoll und abstoßend gezeichnet mit einer Nachsichtigkeit, die schwarz-weiß denken am Ende rügt. Zugleich ist es zweifellos eines von Gaimans persönlicheren Werken, wie er selbst im Nachwort schreibt, und so erkennt man ihn in der Figur des namenlosen Protagonisten das ein oder andere mal wieder (auch Gaiman wünschte sich die Narnia-Bände zum 7. Geburtstag). Ironischer- oder wohl eher logischerweise – denn bekanntermaßen war Lewis‘ Reihe ein wesentlicher Faktor für Gaimans Berufswahl – überkam mich beim Lesen manch nostalgischer Moment: Der Ozean am Ende der Straße fühlt sich an wie nach Hause kommen in die Kindheit zu Aslan und Alice. Und genau wie die Pevensies spüre ich die stille Sehnsucht nach diesem verwunschenen Ort. Vielleicht auch nach jenem namens Kindheit, wo ein Wachtraum wahr werden konnte, wenn man es sich nur fest genug vornahm und stundenlang Wunderland spielte, ja, wäre man ins Loch gefallen, nicht hinterfragt hätte, denn so etwas wie Regeln gab es nicht. Und genauso fühlt der Protagonist, genauso fühlt sich das Buch an.
„Ich habe von diesem Lied geträumt, von den merkwürdigen Worten und der einfachen Melodie […]. In jenen Träumen verstand ich diese Sprache, die erste aller Sprachen, […] die Sprache der Realität, und alles, was in ihr ausgesprochen wurde, nahm Gestalt an, denn nichts, was in ihr gesagt wird, kann eine Lüge sein.“
So dicht und offen und genau richtig sich Der Ozean am Ende der Straße schließlich anfühlt, so ist es doch im Grunde eine verhältnismäßig kurze, geradlinige, eher leise, sprachlich unspektakuläre, jedoch durchaus packende Geschichte mit herzerwärmenden, aber auch haarsträubenden Szenen, die im Gedächtnis bleiben (und ich meine Struwwelpeter-Trauma-im-Gedächtnis-bleiben) – nicht zuletzt dank der zahlreichen herrlich düsteren Illustrationen von Elise Hurst, die die surrealistische, schauerromantikartige Atmosphäre beispiellos einfangen. Überhaupt muss ich die Ausstattung der frisch erschienenen Ausgabe loben, so schwer und wertig, wie sie einem in der Hand liegt. Einzig für die Beschreibung von „indianischem Federschmuck“ hätte ich mir eine politisch korrektere Übersetzung gewünscht. 2013 wurde das Buch übrigens bei den British Book Awards zum Book of the Year ausgezeichnet. Und ohne mich zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen, glaube ich, dass auch die Phantastik-Skeptischen unter euch Gefallen daran finden könnten. Denn es ist eben nicht nur eine Geschichte über eine bösartige Kreatur, die sich in einer Familie einnistet, sondern auch eine Geschichte über das Kind sein in all seinen schönen, aber auch grausamen Facetten und eine Geschichte über Freundschaft. Die Freundschaft zwischen ihm und Lettie Hempstock, die einen Ozean im Garten hat.
Vielen Dank an Eichborn für das Rezensionsexemplar!
Neil Gaiman | Der Ozean am Ende der Straße | aus dem Englischen von Hannes Riffel | Eichborn Verlag | 336 Seiten | 24,00€ | ISBN: 978-3-8479-0071-9