Drängende Hörempfehlungen

Im November habe ich mein letztes Buch gelesen. Die Realität hatte mich eingeholt. Und dann habe ich verloren. Jemanden verloren, der mir wichtiger war als alles. Ich kann die meiste Zeit des Tages kaum atmen, also lasse ich das mit dem Lesen für den Moment. Allerdings bin ich beruflich mit einigen Hörbüchern in Berührung gekommen, von denen drei mir bis heute keine Ruhe lassen. Und da das letzte ab heute endlich im Handel ist, habe ich beschlossen, euch davon zu erzählen:

Eins, das begeistert, eins, das sprachlos macht und eins, das einfach nur wehtut. Alle auf ihre Weise außergewöhnlich. Beginnen wir mit dem neuesten Titel, dem, der wehtut. Und den ihr alle bitte sofort kauft.

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Kim Jiyoung, geboren 1982

Da ist diese eine Szene, die mich so sehr getroffen hat, dass ich sie auch Monate später noch Wort für Wort vor Augen habe. So harmlos nebenbei, so alltäglich. Der zerstörerische, unerträgliche Höhepunkt der Geschichte. Meiner jedenfalls. Die Mitdreißigerin Jiyoung sitzt mit ihrem Baby auf einer Bank im Park und trinkt erschöpft einen Coffee to go. Da bemerkt sie eine Gruppe junger Männer, wohl in der Mittagspause, die zu ihr herüberstarren und tuscheln. Sch-mama-rotzer. Sitzt entspannt faulenzend mit ihrem Balg im Park und gönnt sich vom Geld ihres hart arbeitenden Mannes einen Kaffee. Der Moment, in dem Jiyoung endgültig zerbricht. Der Moment, in dem ich mit wütenden Tränen in den Augen aufschreie, weil ich sie kenne, diese ekelerregende, unterschwellige Misogynie und weil ich Jiyoung kenne. Ihre Geschichte. Das, was sie ihr Leben lang hat ertragen müssen und das, was sie sich so hart erarbeitet hat. Was sie aufgeben musste. Was Männer niemals sehen werden.

Ich kenne ihre Geschichte. So, wie ich auch die Geschichte ihrer Mutter kenne. Die ihrer Großmutter. Die so vieler anderer (südkoreanischer) Frauen. Eine leise Geschichte der Unterdrückung, der Opfer, der Geringschätzung, der zerplatzten Träume. Die Geschichte einer patriarchalen, misogynen Gesellschaft, die nicht nur in Südkorea stattfindet, dort jedoch nach Erscheinen des Buches 2016 einen medialen Aufschrei auslöste und verfilmt wurde. Eine Geschichte, die jede Frau und jeder Mann und jeder darüber hinaus hören/lesen muss, um vielleicht endlich zu verstehen.

Nam-joo Cho | Kim Jiyoung, geboren 1982 | Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee | Gelesen von Nele Rosetz & Felix Manteuffel | Argon Verlag | ISBN: 978-3-8398-1863-3

Lieber lesen? Das Buch ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch

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Der Mann im roten Rock

Kein anderes Buch, sei es wie hier (erzählendes) Sachbuch oder Roman, hat mich im letzten Jahr derart vortrefflich unterhalten wie Julian Barnes‘ Ausflug in die Belle Époque. Ins Paris um die Jahrhundertwende, wo Dandys umherstreiften, Feindschaften pflegten, Duelle ausfochten, einander auf feinsinnigste Weise beleidigten und den neuesten Klatsch und Tratsch analysierten. Mittendrin: Modearzt Dr. Samuel Pozzi, der Mann im roten Rock, zumindest im coverspendenden Bild von John Singer Sargent, das Julian Barnes derart faszinierte, dass er ein ganzes Buch über den Porträtierten schrieb. So man ihm denn glauben mag. Doch auch wenn Titel und Beschreibung es vermuten lassen, geht es im Hörbuch eigentlich gar nicht um Pozzi. Er fungiert vielmehr als Bindeglied all jener kuriosen Gestalten und herrlichen Ereignisse, derer wir Zeuge werden.

Denn Pozzi war ein Star seiner Zeit – mit halb Paris im Bett (Sex und Sexualität waren mir zugegebenermaßen etwas zu präsent, das hatte das Buch gar nicht nötig) und mit der anderen Hälfte bekannt. Den „kultivierteren“ Kreisen wohlgemerkt. Marcel Proust, Sarah Bernhardt, Colette, Émile Zola, Oscar Wilde, Joris-Karl Huysmans, die High Society öffnet ihre Pforten. Und offenbar tickt Julian Barnes bei einem solch vorzüglichen Reigen an amüsanten Anekdoten und Hintergrundgeschichten zu noch den unwichtigsten Nebenfiguren (von anderen schmählichst als unnützes Wissen abgestempelt) genau wie ich: Immer her damit! Straffung und roter Faden weichen einer Spielwiese, die man nach Verlassen am besten gleich erneut betritt, denn erst am Ende des Hörbuchs hat man wohl annährend einen Überblick über die Fülle an auftretenden Figuren und ihre Verbindungen zueinander gewonnen.

Barnes fordert unsere Konzentration, doch das mit seinem amüsant-eleganten Schreibstil (Kompliment an die Übersetzerin) auf derart charmante Weise, dass ich Frank Arnolds sonorer Lesung noch Stunden länger hätte lauschen können. Mein Highlight: Die schillernde Dandyfeindschaft zischen dem Skandaljournalisten Jean Lorrain und dem Grafen Robert de Montesquiou-Fezenac (ungewollt beliebtes Vorbild für literarische Abbilder, etwa bei Huysmans und Proust). Allein ihrer Persönlichkeiten wegen lohnt sich dieser Ausflug in den Fin de Siècle voller pikanter Details, der zum Entdecken, Staunen und Schmunzeln einlädt.

Julian Barnes | Der Mann im roten Rock | Aus dem Englischen von Gertraude Krueger | Gelesen von Frank Arnold | Argon Verlag | ISBN: 978-3-8398-1826-8

Lieber lesen? Das Buch ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch

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Eroberung

Man stelle sich vor, Kolumbus‘ kleine Flotte hätte sich einst vor der Küste Südamerikas getrennt. Weiterhin, dass die Indios von seinem Eindringen nicht besonders erfreut gewesen wären und seine Mannschaft abgeschlachtet hätten. Was wäre, wenn nur Kolumbus selbst verblieben wäre, „[n]ackt und fast blind […] wie ein herrenloser Hund“, interessant allein für die Tochter der großen Herrscherin Anacaona, die seinen Geschichten zu Jesus Christus und dem Land auf der anderen Seite des Ozeans bereitwillig lauschte. Man stelle sich weiterhin vor, einige Jahre später, viele Meilen entfernt, wäre ein Streit zwischen zwei Brüdern ausgebrochen, doch weil sie keine normalen Brüder waren, sondern die Herrscher des Inkareichs, sollte der ganze Kontinent im Krieg erbeben.

Sagen wir, Huascar hätte die Übermacht erlangt und jagte Atahualpa und sein Gefolge über die Grenzen des Inkareiches hinaus, sodass Atahualpa über die See nach Kuba flüchtete. Direkt ins Reich der großen Anacaona, die einst Kolumbus gefangen nahm. Doch die Raserei Huascars kannte keine Grenzen, schon bald spürte er seinen Bruder auf. Woraufhin es Higuenamota war, die Tochter Anacaonas, die Kolumbus‘ Geschichten in ihrer Kindheit so gespannt gelauscht hatte, die Atahualpa den Weg übers Meer wies. Man stelle sich nun also vor, jener gejagte Inkakönig Atahualpa wäre mit seinem geschrumpften Gefolge und der sprachkundigen Higuenamota an seiner Seite nach Portugal gesegelt… und innerhalb von wenigen Jahren nicht nur zum Herrscher Portugals, sondern halb Europas aufgestiegen.

Klingt absurd? Auch mein erster Gedanke, doch wie sollte ich überrumpelt werden. Nehmt euch den Moment und werft einen Blick in die Hörprobe, dann werdet ihr verstehen, was ich meine, wenn ich sage, dass ich nie etwas Vergleichbares gehört habe. „Eroberung“ ist ein geistreiches, spannendes Epos, das nicht zuletzt durch seinen unterschwelligen Witz und bibelartigen Schreibstil (der Sohn des Sohnes des Sohnes des Sohnes), ja, nahezu sakralen Klang überzeugt, den (und all die Namen und Fremdwörter) in der Hörbuchversion einzufangen Stefan Kaminski auf preisverdächtige Weise gelungen ist. Ein außergewöhnliches Hörbuch in jedweder Hinsicht.

Laurent Binet | Eroberung | Aus dem Französischen von Kristian Wachinger | Gelesen von Stefan Kaminski | Argon Verlag | ISBN: 978-3-8398-1831-2

Lieber lesen? Das Buch ist erschienen bei Rowohlt

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