Schauen Sie, wie unbedarft Helen auf den Freund zugeht, nichtsahnend noch, das fieberhafte Flimmern in den Augen, den hektischen Blick zur Tür nicht bemerkt. Sehen Sie die ersten Zweifel ob der Worte ihres Gegenüber, da Sie ihr zurufen wollen „nein Helen, nimm sie nicht“, diese Seiten eines Toten über jene, die sie die Zeugin nennen. Die verdammt wurde zu ewigem Leben in stiller Einsamkeit. Doch zu spät. Sie hat es an sich genommen, das Manuskript. Ist auf dem Weg, gleich ist es zu spät, sie wird es lesen. Aber was ist das, dort, an der Hausecke? Ein Lichtspiel? Ein besonders schwarzer Schatten bloß? Oder ist es Melmoths schwarzer Schleier, der dort flimmert im Wind?
So oder so ähnlich (verworren jedenfalls) würde der Klappentext wohl lauten, würde nicht das Lektorat Sarah Perrys sprachlichen Ausflügen Einhalt gebieten. Aber „Frau mit dunklem Geheimnis gelangt an ein Manuskript über Begegnungen mit der unsterblichen Melmoth, die dazu verflucht wurde, alle Sünden zu bezeugen und den Blick nun scheinbar auf die Protagonistin richtet“ klingt ja auch weniger einladend. Schade eigentlich, denn Perrys Schreibstil, der entweder hoch gelobt oder für gewöhnungsbedürftig, gar langatmig befunden wird, ist in Verbindung mit den leisen Geschichten wohl der Schlüsselfaktor, der darüber entscheidet, ob das Buch abgebrochen oder erst recht gelesen wird. Denn Perry schreibt schmerzlich präzise. Nicht die reduzierte, sondern im Gegenteil die ausschweifende Variante. Kurze, übersichtliche Sätze und doch voll mit sogenannten „blumigen“ (weil viele Vergleiche und Metaphern) und „detailverliebten“ Dingen, die sich in „Melmoths“ düsterer, melancholischer Stimmung jedoch so gar nicht blumig oder verliebt anfühlen.
„[Sie] hat sich im Gewebe der Altbauwohnung festgesetzt wie ein hartnäckiger Fleck. Ihr Geruch klebt an den Teetassen, im Waschpulver und zwischen den Seiten der Wörterbücher im Regal. Helen erträgt ihn, wie sie alle Unannehmlichkeiten und Härten erträgt, mit viel Geduld und als gerechte Strafe“ (S. 42).
Vielmehr ist dieser kalte, scharfsichtige Blick ein erfreuliches Symptom des kränkelnden auktorialen Erzählers, der etwas unbeholfen zwischen Distanz und Nähe schwankt und nicht müde wird, die Leserschaft direkt anzusprechen und dazu aufzufordern, genau hinzusehen an Stellen, wo es nichts zu sehen gibt – für Lesende ja ohnehin nicht. So verkommt dieser nette Kniff, das Durchbrechen der vierten Wand, das bei E.T.A. Hoffmann mit seinen ironischen Erzählern oder bei der Comedy-Serie „Fleabag“ hervorragend funktioniert, hier zu einem Fremdkörper ohne Funktion. Da hilft auch die lieblos hingeworfene Erklärung am Ende nichts. Sehen Sie hier, schauen Sie da, ist das da am Haus etwa eine Frau – irgendwann nervt diese Extravaganz einfach nur, denn Spannung erzeugt sie durch die endlosen Redundanzen nicht.
Spannung. Ein Kriterium, das man bei Perry nicht suchen darf. Und warum auch? Bücher müssen nicht spannend sein. Literatur schon gar nicht. Problematisch wird es allerdings, wenn der Versuch dazu ersichtlich wird… und kläglich scheitert. Perry hat es probiert, nicht mit glühendem Eifer, so viel steht fest, doch das dunkle Geheimnis der sich selbst geißelnden Protagonistin hebt sie sich dennoch für den Schluss auf. Nur dass es nicht wirklich interessiert. Andere Spannungsherde gibt es nicht oder aber sie lösen sich so schnell wieder auf, wie sie gekommen sind. Es bleibt nur die eine Frage, um die alles kreist, um Melmoth, Melmotka, Melmat, die Zeugin, die Menschen wie Helen in den Wahn treibt, ist sie real oder Einbildung?
Man sollte meinen, wer zum Thema Schauerroman promoviert hat, sollte sich darauf verstehen, den LeserInnen wortwörtlich einen Schauer über den Rücken zu jagen. Perry erzeugte lediglich ein laues Lüftchen, indem inflationär von einem Schatten, einer Person, einem Stofffetzen die Rede ist, der Helen beobachtet. So zerstört der auktoriale Erzähler zuverlässig das, wozu er überhaupt erst erschaffen wurde. Nur wenn Melmoth selbst tatsächlich in Aktion tritt, Dohlen gegen Fensterscheiben klatschen und Schatten zu wabern beginnen, erahnt man, was dieser Roman hätte sein können.
„Sie ist jetzt sehr nah, ihr Blick ist bohrend, ihre Augen in dem dunklen, hageren Gesicht schillern wie Öl auf Wasser. […] Lilienduft breitet sich aus, schwer und widerlich, und da ist noch etwas, die Süße der Fäulnis.“ (S.321)
Wer „Melmoth der Wanderer“ von Charles Robert Maturin von 1820, ein Paradebeispiel der Schauerromane kennt, ahnt, dass Perry eine moderne Adaption vorlegt. Melmoth als Frau statt Mann, die nicht wegen ihres Begehrs nach Wissen einen Pakt mit dem Teufel eingeht, auf dass sie 150 Jahre Zeit hat, eine Seele zu finden, die statt ihrer verpfändet wird, sondern Melmoth als biblische Figur, die einst Jesu‘ Auferstehung leugnete und auf ewig dazu verdammt wurde, die Sünden anderer zu bezeugen und die nun auf der Suche ist nach jemandem, der ihr auf ihrem einsamen Weg beisteht. Das alte Manuskript, dessen Verfasser dem Mythos Melmoth auf den Grund geht; jemand, der sich darin verliert; die Schilderung verschiedener Geschichten aus dem Manuskript – all das sind inhaltliche Parallelen zu Maturins Werk…
„Brennen die Flammen weniger heiß, wenn sie gerecht sind? Ist das Messer stumpf, nur weil der Stich zu Recht geschieht? Glaubst du, du würdest weniger leiden, nur weil du gesündigt hast?“ (S.174f)
Religion (Perry wuchs in einer Baptistenfamilie auf), Essex (Perrys wie Helens Heimat) und Schuld sind ein roter Faden, der sich durch ihre Romane zieht. Doch Schuld, die bisher im kleinen, persönlichen Rahmen verblieb, weitet „Melmoth“ dahingehend aus, dass die Figuren u.a. als kleine Räder beim Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich und an jüdisch stämmigen im Nationalsozialismus mitwirken – ohne zu verstehen. Bis Melmoth die Zeugin kommt und ihnen ihre Schuld aufzeigt, indem sie die Lügenschleier „Theresienstadt“ und „Armenierdörfer“ zerreißt.
Doch Melmoth bleibt bis zuletzt eine Randfigur, über die wir zu früh zu viel erfahren, während Helen unnahbar bleibt. Es ist schon eine Leistung, sämtliche Nebenfiguren lebendiger, einschätzbarer zu beschreiben als die Protagonistin. Und so fällt für Zweifelnde wieder ein Grund weg, der Handlung zu folgen. Nun, vielleicht wären sie auch bei besserer Ausleuchtung abgesprungen, denn Perrys Figuren sind grundsätzlich unsympathisch oder zumindest sind sie nicht sympathisch. Denn ihre große Stärke liegt neben ihrer Fähigkeit, mit wenigen Worten eine bestechende Atmosphäre zu schaffen, darin, dass sie ihre Charaktere zwingt, sich die hässlichen Wahrheiten einzugestehen und ihr Seelenleben mit all seinen Abgründen vor der Leserschafft auszubreiten in einer Intensität, die einen zum Wegschauen einlädt. Vielleicht ist das der wahre Grund, weshalb so viele LeserInnen Perry abbrechen – weil sie sich selbst erkennen.
Sarah Perry ist kein Mainstream. Das merkt man an „Melmoth“, vom Observer zum Roman des Jahres 2018 erklärt, fast noch mehr als am preisgekrönten, jedoch kontrovers rezipierten Vorgänger „Die Schlange von Essex“, das zum Waterstones Book of the Year 2016 gekürt, 2017 mit dem British Book Award für den besten Roman ausgezeichnet wurde und demnächst von der BBC mit Keira Knightley in der Hauptrolle verfilmt wird. Doch wo „Die Schlange von Essex“ im ersten Gang kreischend einen steilen Berg hochrast, stottert bei „Meltmoth“ schon nach dem ersten Drittel der Motor, das Auto wird langsamer, bleibt stehen und rutscht kraftlos wieder rückwärts den Berg hinunter, die Handbremse angezogen.
Wo der Vorgänger es hervorragend verstand, Realität und Mythos um eine Schlange, die ein Dorf heimzusuchen scheint, miteinander zu verbinden und bis zum Schluss unklar ließ, ob sie nun real ist oder nicht, stolpert „Melmoth“ etwas hilflos hinterher, echtes und unechtes vermischen sich wenig elegant und enttäuschen in einem standpunktlosen Finale. Wo „Die Schlange von Essex“ durch Originalität und atmosphärische Beschreibungen der Landschaft, die das Innenleben ihrer Charaktere spiegelten, glänzte, wirkt „Melmoth“ durch sich wiederholende Umgebungsbeschreibungen oft seltsam uninspiriert, die Statue des Johannes von Nepomuk schien Prags (!) einziges Kennzeichen zu sein. Und die Dohlen. Immer wieder diese Dohlen. Ein aufdringliches Motiv, bei dem selbst die unaufmerksamste LeserIn schnell verstanden hat, dass sie Melmoths Anwesenheit verkünden.
Fans von Charles Robert Maturins Vorlage könnten ihre Freude mit „Melmoth“ haben, GruselliebhaberInnen ob der fehlenden Spannung und Schauermomente nur bedingt. Es ist ein seltsamer Hybrid, der sich niemandem per se empfehlen lässt, nicht einmal Perry Fans, droht die ungewohnte Flachheit doch zu enttäuschen.
Sarah Perry | Melmoth | aus dem Englischen von Eva Bonné | Eichborn Verlag | 332 Seiten | 24,00€ | ISBN: 978-3-8479-0664-3