Die Stille

Don DeLillo, immer wieder heiß als Literaturnobelpreisanwärter gehandelt, stand schon lange auf meiner Leseliste. Jetzt sollte es also so weit sein, „Die Stille“ der neueste Wurf, vollendet wenige Wochen vor der Pandemie. „Ein Werk mit verblüffenden Parallelen zur aktuellen Situation in der Welt“, ja, ein „literarischer Meilenstein“, schreibt der Verlag. Also ein Coronaroman ohne Corona – nein, nicht wirklich.

New York, 2022. Da sind fünf Menschen, vorm Fernseher zusammengequetscht, Super Bowl. Halt, nein, noch sind sie zu dritt. Jim und Tessa werden gleich einen Flugzeugabsturz überleben. Ist aber nur halb so wild. Zumindest interessiert sich niemand wirklich dafür. Noch ein kurzer Abstecher ins Krankenhaus, gleich sind sie da. Vor dem „Megabildschirm“: Diane und Max und Dianes ehemaliger Student Martin. Max, der Fan, Diane, die so-was-wie-Partnerin, Martin, der unscheinbare Sonderling, der Einsteinsuchtler, der von fremden Zitaten lebt. Da geht der Fernseher aus. Handys aus. Laptop aus. Licht aus. Stille. „Sag mal was Schlaues“, Max zu Martin. Chinesen. Außerirdische. Hohles Akademikergefasel. Max klinkt sich aus, ist nun Spielkommentator vor dem schwarzen Bildschirm. Ratlos daneben Diane, die plötzlich geil wird vom Einsteingewäsch des ehemaligen Studenten, aber dann irgendwie doch nicht. Auftritt Jim und Tessa. Flugzeugabsturz? Nebensache. Leere Straßen. Naturkatastrophe. Massenüberwachung. Künstliche Intelligenz. Invasion. Etwas ganz großes muss am Werk sein, so Martin. Max hört nicht zu. Überhaupt hört niemand einander zu.

„Ist das so eine Situation, in der wir überlegen sollten, was wir sagen, bevor wir es sagen?“ S. 63

Lasst es mich gleich vorweg nehmen: Dieser mein erster DeLillo wäre, wenn ich nicht um die Lobeshymnen einiger älterer Werke wüsste, wohl mein letzter. Ich höre seine Stimme, erahne den „DeLillo-Sound“, kann nicht umhin, die Einzigartigkeit der Dialoge zu bewundern, wie viel präziser aufeinanderprallende direkte Rede doch manchmal das wie und wer und gemeinsam schildern kann als ein Erzähler (ach, das erste Kapitel – wäre es doch so geblieben). Doch hier, in dieser Ausnahmesituation, war das einfach nicht genug. Wer sind diese fünf? Was bewegt sie? Ich sehe, wie sie mit dem Unbekannten umgehen, erkenne den Wahn, die Flucht in die Erinnerung oder Körperlichkeit, die Selbstisolation, doch es bleibt ein Kratzen an der Oberfläche, die eingerissen gehört, ein Muster, das sich in den verschwurbelten (entschuldigt die folgende Formulierung), pseudo-intellektuellen Monologen fortsetzt. Die Gefühle sind tot.

„Kryptowährungen, Mikroplastik. Gefahren auf jeder Ebene. Essen, trinken, investieren. Atmen, inhalieren, Sauerstoff in die Lungen saugen.“ S. 87

So geht es in einem fort. DeLillo lässt seine Figuren Worthülsen in den Raum deklarieren, ohne sie miteinander zu verbinden, Gedanke reiht sich an Gedanke, nicht uninteressant, nicht fehl am Platz, doch die Tiefe fehlt. Alles schonmal da. Ein lieblos hingeworfenes Wort reicht nicht, um als Auseinandersetzung zu gelten. Und so bleibt der einzige Mehrwert dieser endlosen Aufzählung an Gefahren unserer Welt der, dass diese wirren, aneinander vorbeiredenden Monologe die zunehmende Unsicherheit unserer New Yorker Intellektuellen spiegeln. Raum für Ironie, würde sich das Buch nicht derart ernst nehmen. (Wobei man Christian Brückners sonorer Stimme in der Hörbuchversion fast abkauft, es hier mit gewichtiger, weltbewegender Literatur zu tun zu haben – aber er ist nun einmal auch „The Voice“!)

Die Kritik ist klar: Was machen digitale Medien mit uns, wer sind wir ohne sie? Haben sie uns bereits derart entmündigt, dass wir analoge Kommunikation verlernt haben? Sind wir dazu verdammt, im erstbesten Moment Verschwörungstheorien den Vorzug zu geben, statt die Lösung im einfachen Stromausfall zu suchen? Mit Blick auf das, was wenige Wochen nach Fertigstellung des Manuskripts folgen sollte, durchaus interessant, doch in dieser Umsetzung wohl keine Pflichtlektüre.

Man muss schon wollen, um die „Die Stille“ zu lesen. Sich einlassen, nicht das Dramatische, Spannende oder gar eine Handlung suchen, Freude allein im Subtilen finden und Fragmente akzeptieren können. Doch wenn ihr mich fragt, nehmt lieber einen anderen DeLillo. Und ja, Sherlock, die Figuren reden und handeln wie Figuren, nicht wie Menschen, es ist eben Literatur, finde dich damit ab!

Vielen Dank an Kiepenheuer & Witsch für das Rezensionsexemplar!

Don DeLillo | Die Stille | aus dem Amerikanischen von Frank Heibert | Kiepenheuer & Witsch | 112 Seiten | 20,00 € | ISBN 978-3-462-00128-0

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