Wollen wir ewig leben?

Das mag seltsam klingen, doch gab es schon einmal ein Buch – wohlgemerkt ein Sachbuch – das euch unsympathisch war? Das zwar durchaus interessante Informationen für euch bereithielt, doch dessen komplette Herangehensweise euch während des Lesens tiefe Falten in die Stirn trieb, weil sie eine Art negative Aura versprühte? Wenn ich zurückdenke, so ist zuletzt wohl „Rabenschwarze Intelligenz“ ein Titel gewesen, der mir in seiner einseitigen Argumentation unsympathisch war und tatsächlich gibt es in der „Machart“ einige Parallelen zur aktuellen Lektüre – allen voran die etwas aufdringliche unterschwellige Meinung der AutorIn…

„Trotz unserer vielgepriesenen Intelligenz und ‚Komplexität‘ sind wir nicht die alleinigen Lenker unserer Geschicke oder überhaupt von irgendwas. Man kann verbissen Fitnessübungen machen und nach den neuesten Moden der Ernährungswissenschaft essen und trotzdem am Stich einer gereizten Biene sterben.“ S.180

Dies soll wohl die Kernaussage von „Wollen wir ewig leben?“ sein. All unsere Bemühungen, das Leben zu verlängern – Sport, Ernährung, Meditation, Vorsorgeuntersuchungen – garantieren uns nicht, den ewigen Kettenraucher zu überleben. Und doch wird beim Ableben vor einer gewissen Altersgrenze nachgehakt: Wie hat dieser 55-Jährige gelebt? Hat er getrunken? Regelmäßig Sport getrieben? Sich ausgewogen ernährt? Wie war nochmal die genaue Krebsdiagnose? Lungenkrebs? Ach, na dann ist der Fall klar.

Barabara Ehrenreich widmet sich in ihrem Buch dem gewachsenen Wunsch nach allumfassender Kontrolle über Körper und Geist, der seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in der westlichen Zivilisation Einzug gehalten hat. In Kapiteln wie „Den Körper unterwerfen“, „Die Achtsamkeitsmanie“ und „Rituale der Demütigung“ begeben wir uns auf eine Reise in die Vergangenheit, beobachten, wie der Körperkult seine Anfänge nimmt, Fitnessstudios aus dem Boden schießen und ein trainierter Körper plötzlich zum Statussymbol wird, wie Unternehmen Wellnessprogramme für ihre Angestellten einführen, damit man länger etwas von ihnen hat, wie Krankenkassen Sanktionen verhängen, wenn man sich der regelmäßigen Teilnahme an Programmen und Untersuchungen verweigert. Das Zeitalter der medizinischen Prävention beginnt. Zugleich: Der Feldzug gegen das Fett! Fast Food wird Sache der Armen, Zigaretten vom Arbeitsplatz verbannt. Doch nicht nur der Körper bedarf der steten Überwachung, auch der Geist muss funktionieren: Stichwort Achtsamkeit. Und ausgerechnet Silikon Valley, das mit seinen Erfindungen die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne der Menschen unter die eines Goldfisches sinken ließ, offeriert zahlreiche Apps zur Lösung unserer Probleme…

In der Tat schildert Ehrenreich in diesen Kapiteln einige spannende Zusammenhänge zwischen Gesundheit und wirtschaftlicher Situation. Wenn sie etwa schreibt, „Sport zu treiben ist eine andere Form des demonstrativen Konsums: Wohlhabende Menschen tun es, Menschen aus unteren Schichten vermeiden es lieber.“ (S.76), mag das zunächst effekthascherisch klingen – sie klammert hier „Einzelerscheinungen“ wie BodybilderInnen aus – doch ihre Argumentation erscheint im Zusammenspiel mit den parallelen Entwicklungen in Ernährung & Co. schlüssig und öffnete mir an der ein oder anderen Stelle die Augen.

„Wenn Ernährungsgewohnheiten die Kluft zwischen den sozialen Schichten markieren, so war Rauchen eine Firewall zwischen den Klassen“ S.118

Etwa beim Rauchen. Rauchen ist teuer, hier funktioniert ihre Logik – Sport wie gute Ernährung erfordern Geld – scheinbar nicht. Bis wir von einer Frau lesen, die drei Jobs hat und im Rauchen die einzige Möglichkeit sieht, ihren Tag zu überstehen. Eine Zigarette gibt ihrem müden Gehirn den Kick für die nächste Stunde. Sie lässt sie funktionieren. Eine Sache in ihrem Leben unter Kontrolle haben. Ihren Körper. 

Und hier wären wir wieder beim Stichwort. Kontrolle. Kontrolle, die sich auch durch Vorsorgeuntersuchungen manifestiert. Die medizinische Prävention nimmt zu Beginn des Buches nicht gerade wenig Raum ein, an dem sich Ehrenreich, die mit ihren 79 Jahren so einige persönliche Erfahrungen beizusteuern hat, abarbeiten kann. Sie selbst hat vor Jahren aufgehört, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, obwohl sie einst an Krebs erkrankt war. Zu überladen ist das amerikanische Gesundheitssystem mit unnötigen Tests, die ihre ganz eigenen Risiken bergen. Dieses Kapitel ist das wohl anregendste von allen, geht es nicht nur auf die mitunter fragwürdige Geschichte der medizinischen Diagnosefindung ein, sondern sprüht auch vor teils absurden Anekdoten, die zum Hinterfragen einladen. Wenngleich ich die (wie schon zu Beginn des Beitrages angedeutet) deutlich hervorgebrachte Einstellung der Autorin insofern kritisieren muss, als dass es für sie als 79-Jährige vielleicht sinnvoll erscheinen mag, sich den Rest ihres kostbaren Lebens nicht mit Zeit und Lebensqualität raubenden Tests zu trüben, jedoch diese Einstellung nicht im selben Maße auf jüngere Menschen übertragbar ist. Ihr Mantra „alt genug, um zu sterben“ gilt hier noch nicht. Eine frühere Identifikation von Tumoren durch Vorsorgeuntersuchungen kann nun einmal Leben retten.

Insofern ist auch die gesamte Argumentation von Ehrenreich mit Vorsicht zu genießen, die ich oft als zu einseitig, aber auch befremdlich empfand. Befremdlich nicht, weil ich sie nicht nachvollziehen konnte, sondern weil die hier geschilderte Lebensrealität von geradezu fanatischer Selbstoptimierung mir in diesem Maße fremd ist. Denn auch, wenn hier von westlicher Zivilisation die Rede ist, liegt der Fokus ihrer Ausführungen doch deutlich auf den USA, sodass der Erkenntnisgewinn für mich nur bedingt vorhanden ist – viele Zusammenhänge, die sie benennt, sehe ich in Europa in der Art nicht. Beispielsweise herrscht in den USA in Bezug auf die Vorsorgeproblematik eine ganz andere Ausgangssituation wegen der weitgehenden Privatisierung des Gesundheitssektors…

Zweifellos rührt mein Gefühl der Unsympathie unter anderem genau daher, dass ich mich mit den geschilderten dramatischen Lebensrealitäten nicht identifizieren konnte. Ihr zynischer Ton und die Dominanz der persönlichen Ansichten der Autorin taten anschließend wohl das übrige. Ich mag es ganz einfach nicht, wenn ich das Gefühl bekomme, ein Sachbuch will mich bewusst in eine Richtung lenken und klammert andere Ansätze aus. Dennoch waren die Exkurse in die Geschichte der Medizin, vor allem jener zur Bedeutung von medizinischen Ritualen sehr erhellend – wobei der Zusammenhang zum Oberthema jedoch mitunter verloren ging.

Hier wären wir beim wohl größten Problem von „Wollen wir leben?“: Dem roten Faden. Der einfach nicht existiert. Ganze Unterkapitel verlieren sich in Ausführungen, deren Bezug zur Frage nicht erkennbar ist. Gewissermaßen liest es sich wie eine erste Version, die durch ein Lektorat noch gestrafft, gekürzt, gelenkt gehört. Fast schon willkürlich angeordnet sind die Kapitel, ebenso wild die Gedankensprünge darin. Ich möchte fast schon sagen, sie sind zugleich voller Informationen wie informationsarm, gestreckt manche Gedanken, die in wenigen Sätzen zusammengefasst hätten werden könnten. Oberflächlich dieses und jenes Zitat eingestreut, dessen Bedeutung zu erfassen einem aber verwehrt bleibt. Von den inhaltlichen Wiederholungen will ich gar nicht erst anfangen.

Den Höhepunkt fand dieses Vorgehen zweifellos in nicht weniger als drei Kapiteln zum persönlichen Lieblingsthema der Autorin: Den Makrophagen. Makrophagen sind Zellen des Immunsystems, das ja eigentlich die Aufgabe hat, uns vor Angriffen wie Tumoren zu schützen. Doch hin und wieder kommt es vor, dass die Makrophagen Tumore nicht nur gewähren lassen, sondern sie sogar unterstützen. Dieses Paradox, das das Image unseres Immunsystems als etwas, das es stets zu stärken gilt, zunichtemacht, hatte die Autorin erst zu dem Buch inspiriert. Doch was Makrophagen sind, das hatten wir bereits in der Einleitung verstanden. Und doch zwingt sie die Leserschaft durch drei detailliertere Kapitel zur Geschichte der Makrophagenforschung und Zellbiologie, denen ich die Berechtigung in dem Buch zu erscheinen aufgrund ihres nahezu fehlenden Themenbezugs an dieser Stelle einfach mal absprechen möchte.

Abschließen tut Ehrenreich ihr Buch mit einem recht oberflächlichen und zum Teil wirren Ausflug in die Philosophie zur „Erfindung des Ichs“, der Zunahme des Wunsches nach Individualität und seiner Folgen, wo sie in ihrem Zynismus ganz nebenbei so mancher Religion unsanft auf die Füße tritt. Hier hatte ich mir einiges erwartet, wurde jedoch bitter enttäuscht. Die Energie, die sie in ihre geliebten Makrophagen gesteckt hat, wäre besser in die Entwicklung eines roten Fadens innerhalb wie außerhalb der Kapitel geflossen…

„Der Tod ist unerträglich, wenn du über das ‚ich‘ nicht hinwegkommst“ S. 223, Susan Sontag

Ihr ahnt es, „Wollen wir ewig leben?“ ist ein oft zusammenhangsloser, sprunghafter Brei, der gerne abdriftet und nicht so recht weiß, worauf er hinauswill. Den Gedanken der endlichen Kontrolle über die eigene Sterblichkeit sah ich jedenfalls nur hin und wieder untermauert.  Ein großes Problem bestand für mich zweifellos im irreführenden Titel und Klappentext, die mich weniger einen biologischen und historischen denn philosophischen Schwerpunkt vermuten ließen. Interviews, wie sie im Klappentext angekündigt werden, gab es sicher in Vorbereitung auf das Buch, zu lesen bekommen wir sie allerdings nicht. Erkenntnisse aus Gesprächen mit Sterbenden oder denjenigen, die auf gar keinen Fall sterben wollen, neue Ansätze zur Unsterblichkeit, solche Inhalte hatte ich erwartet. Jedenfalls mehr als die persönliche Ansicht der Autorin und die vorliegende recht einseitige „Argumentation“. Insofern behielt das Buch für mich zwar einige Erkenntnisse bereit, doch nicht jene, auf die ich gehofft hatte. Empfehlen kann ich es wegen des fehlenden roten Fadens leider nicht. Denn auch wenn einen die Themen interessieren, ist es ein eher anstrengendes Leseerlebnis…

„Sie können sich den Tod voller Bitterkeit oder Resignation als tragische Unterbrechung ihres Lebens vorstellen und jede denkbare Möglichkeit ergreifen, um ihn hinauszuschieben. Oder Sie können sich, realistischer, das Leben als Unterbrechung einer Ewigkeit individueller Nichtexistenz vorstellen und es als eine kurze Chance begreifen, die lebendige, immer überraschende Welt um uns herum zu beobachten und mit ihr zu interagieren.“ S.13f

Vielen Dank an den btb Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!

Barbara Ehrenreich | Wollen wir ewig leben? | Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer & Enrico Heinemann | btb | 256 Seiten | 10,00 € | ISBN 978-3-442-71909-9

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