»Vor ein paar Monaten wollte sie den lebendigen Mann, den sie nicht mehr geliebt hat, nur aus ihrem Leben entfernen, und jetzt, wo er sich noch dazu aus seinem eigenen Leben entfernt hat, ist sie wieder in ihn verliebt.« S. 18
Es gibt Rezensionen, die möchte ich nicht schreiben. Die möchte ich geschrieben haben. Simsalabim, schnips, klatsch, bum – und schon ist sie da, die Besprechung. Schön wäre das. Denn manchmal, ja, da erschlagen mich Geschichten. Zu…groß sind sie, zu viel gäbe es dazu zu sagen, zu wenig vermag ich in Worte zu fassen. Franziska Hauser, die zuletzt mit »Die Gewitterschwimmerin« auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018 landete, hat eines dieser Bücher geschrieben. Und wenn ich euch nun die Story grob zusammenfassen würde (»Mann und Exmann der Zwillinge Saphie und Dunja sterben am selben Tag – Dunja zieht zu ihrer Schwester ins Heimatdorf und unterstützt sie im Hotel – ihre erwachsenen Kinder nabeln sich ab – die Familiengeschichte wird unerwartet aufgewirbelt – Dunja findet ein neues Leben, Saphie zu sich«), würde ich nun also diese Geschichte zusammenfassen, dann fragtet ihr euch wohl, warum sie mir zu groß erscheint.
Die Antwort findet sich diesmal in mir selbst. Denn das, was ich mir von Literatur erhoffe, ist im besten Fall, dass sie mich weiterbringt. Weiterbringt, indem sie mir fremde Lebensrealitäten eröffnet, Situationen und Denkweisen derart nachvollziehbar nahebringt, dass ich mich mit weit von mir entfernten Menschen, ihren Gefühlen und Problemen identifizieren kann. Und das gelingt Franziska Hauser mit »Die Glasschwestern« schlicht hinweg vortrefflich. Ich werde Mutter, ich werde Ehefrau, ich werde Widwe, ich liebe, obwohl der andere es vielleicht nicht verdient hat. Und indem ich all die damit verbundenen Gefühle durchlebe, wächst in meinem Herzen etwas neues: Verständnis.
»Dunja kennt Augustas Art, in kurzer Zeit alle Gedanken loszuwerden, die sich angestaut angestaut haben. Dann öffnet Augusta ein Fenstere, um ausgiebig zu lüften, und schließt es wieder.« S. 201
Es ist ein Roman über die Liebe – in sämtlichen Kontexten. Über Familie, das Mutter- und nicht Mutter sein, es geht um Orientierungslosigkeit, Selbsterkenntnis und Selbstfindung, aber auch Trauer, ehrliche Trauer um Menschen mit Fehlern, um Träume, verpasste Chancen. »Die Glasschwestern« ist kein Pageturner. Es ist eine leise, kraftvolle Geschichte mit (Achtung, Klischeewort, aber hier einfach nur treffend) Tiefgang, eingefasst in einen außergewöhnlichen Schreibstil, der Gedanken und Charaktere mit derart klarem Blick erfasst, dass man sich selbst als LeserIn enttarnt fühlt. Jede Figur sitzt, jeder Wortwechsel ist. Die Kulisse – das Hotel mit seinen unfreiwillig komischen Gästen; die »neue« Siedlung mit ihren Vorgärten und reichen, oberflächlichen Charity-Clubmitgliedern; der Wasserturm mit seiner Kommune aus StädterInnen, deren romantische Vorstellungen vom Landleben schnell schwinden; das Dorf, in dem sich jeder kennt und man immer die Glasschwester sein wird; der Fluchttunnel, der ein Familiengeheimnis birgt – der Ort lebt. Und indem Hauser sich Zeit lässt, uns diese Umgebung und Charaktere wirklich kennen lernen lässt, werden wir ein Teil ihrer Geschichte.
»Winne hatte ihr gefehlt, als er lebte und nicht dabei war, wenn sie mit den Kindern die Ferien hier verbrachte. Jetzt fehlen ihr die Kinder, obwohl sie hier sind.« S. 157
Da gibt es etwa den Küchengehilfen mit seinen wenig schmackhaften Experimenten, den aber jeder machen lässt; das chronisch verspätete Zimmermädchen mit ihrer schnoddrigen Art, der sensible und etwas naive Portier Nino, dem Dunja Deutsch beibringen soll; die mysteriöse Therapeutin vom Turm, die Siedlung und Dorf verbindet, indem sie als Pillenquelle herhält; die dritte Schwester Lenka, die seit ihrer Geburt die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zieht und in beruflichem Erfolg, Drogen und Sex verzweifelt das Glück sucht; Jules, Dunjas Sohn, der seine Trauer in sich hineinfrisst und seine Schwester Augusta, die verletzend direkte Aktivistin, die immer beweisen will, wie erwachsen sie ist; schließlich Dunja, die zusehen muss, wie ihre Kinder sich von ihr entfernen und flügge werden, die loslassen und sich selbst wiederfinden, ja, träumen lernen muss; und Saphie, die Schwester, die mit Verdrängung alles zusammenhält, die immer vom Dorf wegwollte, doch dann mit Dunja die Rolle tauschte, wie sie auch später immer wieder tauschen, denn in einer Familie kann es keine zwei gleichen Menschen geben: Jeder hat eine Rolle zu füllen…
»Sie hat ihr Leben wie ein einen Job gelebt. Immer ist sie im Dienst gewesen, lief den ganzen Tag durchs Haus, als hätte sie ihr privates Ich in einem der Zimmer abgelegt und nie wiedergefunden.« S. 358
Wie ich schon sagte: »Die Glasschwestern« ist kein spannendes Buch, das sich an einem Tag durchliest. Es ist ein Titel (ein durchaus humorvoller Titel wohlgemerkt), der sich ähnlich wie »Die Schlange von Essex«– sei es durch den Schreibstil, das langsame Tempo oder die Geschichte selbst – dem Lesegeschmack vieler entziehen wird. Ich selbst habe an die hundert Seiten gebraucht, um mit all diesen Punkten warm zu werden. Wenn auch in der ersten Hälfte einige Kürzungen die Geschichte hätten straffen können, so ist es doch auch ein Buch, das immer stärker wird. Stärker werden muss, denn Franziska Hauser seziert ihre Charaktere nach und nach auf derart eindringliche Weise, dass sie, die anderswo keines weiteren Blickes gewürdigt würden, plötzlich unfassbar interessant erscheinen.
»Ich will keine neuen Räder, Mama. Es geht um Nachhaltigkeit und Wiederverwertung. Begreifst du denn gar nichts?« S. 346
Es ist eine Geschichte, die ich außerhalb meiner Komfortzone gelesen habe. Ja, auf die ich wohl erst gar nicht gestoßen wäre, hätte mich nicht eine Einladung zu einem BloggerInnenabend bei der Autorin ereilt. Und wie ich dort erfahren habe, schreibt die Realität manchmal Geschichten, die man sich nicht ausdenken kann… Einige davon in diesem Buch verarbeitet. Und letztlich haben mich »Die Glasschwestern« vielleicht gerade deshalb fasziniert-sensibilisiert zurückgelassen…
Vielen Dank an den Eichborn Verlag für das Rezensionsexemplar!
Franziska Hauser | Die Glasschwestern | Eichborn Verlag | 430 Seiten | 22,00 € | ISBN: 978-3-8479-0045-0