Marianengraben

»In mir breitete sich das Nichts aus, es hatte kein Gefühl, kein Aussehen, keinen Geruch, keinen Klang, keinen Geschmack. Ich war ein Menschenkostüm, das Nichts enthielt.« S. 13

Paula bricht auf einem Friedhof ein. Mit Observation, Seil, Leiter und allem. Doch als sie dann Gräser zupfend mitten in der Nacht vor dem Grab ihres Bruders sitzt, steht plötzlich Helmut vor ihr. Der unfreundliche Rentner ist gerade dabei, die Urne seiner Freundin auszugraben. Er habe ihr nämlich etwas versprochen. Einmal noch hatten sie in die Berge fahren wollen, da war sie einfach gestorben. Aber Versprechen müsse man halten. Und Paula? Paula kommt mit.

Wir starten bei Kapitel 11000, denn 11 km tief ist der Marianengraben, die tiefste Stelle des Weltmeeres, dessen unförmige, sonderbare Bewohner Tim immer fasziniert hatten. Und in 11.000 Metern finsterster Tiefe befindet Paula sich seit seinem Tod. Zumindest, bis die unerwartete Reise mit dem verstimmten Rentner, seinem misstrauischen Hund und einem verletzten Huhn die junge Frau mit jedem Kapitel näher an die Wasseroberfläche zieht…

»Wenn Trauer eine Sprache wäre, hatte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genau so flüssig sprach wie ich, nur mit Dialekt.« S. 96

»Marianengraben« ist ein Buch, das mich, wie Helmut sagen würde, zur »Heulboje« hat mutieren lassen. Und dabei hat es das – trotz des Themas – nicht einmal krampfhaft darauf angelegt. Denn Jasmin Schreiber präsentiert uns hier eine überaus liebenswerte Roadtripgeschichte über zwei Menschen, deren Lebensrealitäten unterschiedlicher nicht sein könnten, die sich jedoch ob dieses einen Gefühls der Trauer und Schuld ineinander wiedererkennen und beistehen…

Was hier recht harmonisch klingen mag, ist in Wahrheit ein höchst unterhaltsamer, ausdauernder Schlagabtausch zwischen dem eigenbrötlerischen Rentner und der orientierungslosen, überforderten Paula. Die Dynamik zwischen den beiden ist (wie der Schreibstil an sich) herrlich, Helmuts ruppiger und insgeheim fürsorglicher Charakter hat mich ein ums andere Mal laut auflachen lassen, wie auch die absurden Situationen, in die das ungleiche Paar auf ihrem Weg hineinschlittert. Ich sage nur FKK-Seniorenclubs, wilde Verfolgungsjagden bei 20 km/h, rückwärts laufende Hunde und bergdörflerische Bestattungstraditionen…

»Hauen Sie mit dem Besen drauf!«, wies mich Helmut an.
»Vergessen Sie’s.«
»Verdammter Hippie!« S. 201

Und während all dieser kleinen Abenteuer finden wir uns in Paulas Kopf und damit dem Grund für meine Heulboje-Momente wieder. Denn hier spricht sie zu Tim, erinnert sich an seine unendliche Wissbegier, seine Leidenschaft, seine Liebe. Fragt sich, ob er dieses oder jenes megakrass gefunden hätte, warum sie nicht dagewesen war um ihn zu retten, was nun werden soll ohne ihn. Diese unglaublich authentische Schilderung von Paulas Trauer hat mich tief berührt und eigene Assoziationen in mir hervorgerufen, die schließlich mit Schreibers Schilderungen verschmolzen und mich mit verquollenen Augen zurückließen.

Dabei ist die Handlung an sich schlicht: geradlinig, einfach und absolut vorhersehbar, ein Roadtripbuch eben, auch revolutionäre Erkenntnisse zum Thema »Umgang mit Trauer« wird man vergeblich suchen. Doch gerade durch diesen ganzheitlichen, thematisch akzentuierten, überzogen humorvollen, ganz auf sich und seine Figuren konzentrierten Ansatz entwickelt »Marianengraben« diesen unheimlich hohen Identifikationsfaktor und wird so zu einem Buch, das jeder lesen und fühlen kann. Jasmin Schreiber erzählt mit einer Leichtigkeit, die man dem Thema nicht zutraut, heitert uns im einen Moment auf, um uns im nächsten in die bittere Realität zurückzustoßen – eben so, wie wir alle… heilen.

Besten Dank an den Eichborn Verlag für das Rezensionsexemplar!

Jasmin Schreiber | Marianengraben | Eichborn Verlag | 254 Seiten | 20,00 € | ISBN: 978-3-8479-0042-9

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