Eisfuchs

Was… habe ich da gerade gelesen? Wer sich das nach der Lektüre von »Eisfuchs« nicht fragt, ahnt die Lüge. Es ist in der Tat eine ganze Weile her, dass ich ein solch… skurriles und zugleich außergewöhnliches Leseerlebnis durchstand. Durchstand, durchaus, denn was als Milieuportrait einer verrohten, ihrer Kultur beraubten Jugend in der Tundra begann, verzerrte bald zu einem verstörenden, mich durch seine Obszönität abstoßenden Gemisch aus Realität und Mythos…

»Eisfuchs« ist Mahnung und Liebeserklärung zugleich – an den ungebärdigen Charakter der Natur, an die Sprache, die Sagen, die Heimat der Inuit, deren Kultur durch die Christianisierungsmaßnahmen von Staat und Kirche in Vergessenheit gerät. Dort, in Nunavut, im Norden Kanadas, 1975, wo die Häuser wegen des Permafrosts auf Stelzen gebaut werden, wo man ausgeflogen werden muss, um ärztlich versorgt zu werden, wo die Sonne monatelang nicht vom Himmel weicht, dort, wo es erst bei gefühlten minus 50 Grad Schulausfall gibt, dort lebt die namenlose Protagonistin, deren trostlose, von betrunkenen Erwachsenen, Gewalt, Misshandlungen und… Natur bestimmte Kindheit wir fragmentarisch verfolgen. »Lebendige-Forellen-schlucken«-Kindheit, weil die Energie dann am größten ist, »Küken-aus-Versehen-töten«-Kindheit, weil sie am Popkornmais erstickten, »auf-Eisschollen-ums-Leben-spielen«-Kindheit, weil ein Schritt der letzte sein könnte, »nie-zu-gut-sein«-Kindheit, um nicht ins Fadenkreuz der Anführerin zu geraten, »lieber-die-Schwächeren-mit-Steinen-bewerfen«-Kindheit, als selbst zum Opfer zu werden.

»Der Lehrer bohrt seine Finger in meinen Slip
Unter dem Tisch
Er sieht sich um und tut so, als wäre nichts
Ich tue, als wäre nichts
Er geht zum nächsten Mädchen, plötzlich bin ich eifersüchtig« S. 14

Kurze, dafür umso eindrücklichere, collagenartig aufeinanderfolgende Szenen reihen sich an lyrische Ausbrüche (mit denen ich wegen der großen Assoziationssprünge in der Regel weniger anzufangen wusste), angereichert mit Illustrationen. Der Schreibstil: pur. Kurze Sätze. Ausrufesätze. Sie hat viel zu sagen. Mit der abgeklärten Verachtung eines Kindes, das sich erwachsen wähnt. Und dann: Auftritt Magie. Mythos. Geisterwelt. Denn manchmal, da kann sie sie sehen, die bösen Geister, die nach irdischen Körpern gieren. Und was anfangs nur Traum war, wird scheinbar Wirklichkeit, die Natur ruft nach ihr, sie ertrinkt und erfriert fast in einem See, schafft es an die Oberfläche und – nun, dies war der Punkt, an dem ich endgültig ausstieg – wird von den Polarlichtern (ACHTUNG SPOILER) geschwängert:

»Ich werde weiter aufgeschlitzt bis zum Bauch, meine Leber leuchtet, die Blase wird freigelegt. Eine unvorstellbare Säule grünen Lichts bohrt sich in meine Vagina und meinen Anus zugleich. Meine Klitoris explodiert« S. 120

Und später…

»Ich spreize die Beine ganz weit und lasse Wasser in mich hineinfließen. Es hört gar nicht mehr auf. Sie hat auch Durst. Die kleinen Garnelen und Fische schwimmen hinterher, und sie ist nicht mehr so hungrig. Es ist ein Gefühl, als würde sie kleine warme Lichter schlucken. Ein majestätisch großer, leuchtend roter Seesaibling kommt auf mich zugeschwommen. Er ist schon von weitem sichtbar und schwimmt sehr schnell. Ich habe Angst, dass er nicht in mich hineinpassen wird.« S. 144

Wer also Gewalt und Misshandlung, wer vulgäre Sprache, wer sich-in-den-Kopf-einbrennende Beschreibungen bizarrer sexueller Handlungen verabscheut (etwa die orale Befriedigung eines Fuchses in einer Traumsequenz), dem sei vorsichtig vom preisgekrönten Debut der kanadischen Sängerin Tanya Tagaq abgeraten. Denn wenn diese drei Punkte auch nicht jede Seite bevölkern mögen, so entfalten sie sich doch umso eindrücklicher, wenn sie es tun (wie ihr nun unfreiwillig gemerkt haben dürftet). Obschon Tagaq mich mit ihrer ursprünglichen Form der Naturverbundenheit nicht begeistern konnte (nennt mich prüde, dieser sexuelle Aspekt dominierte für meinen Geschmack zu sehr), so lässt sich nicht leugnen, dass ihre Interpretation einer überwältigenden, machtvollen Natur eine gewisse Faszination in mir hinterließ.

Die Autorin erschafft außergewöhnlich starke Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen, von obigen wortreichen Beschreibungen hin zu kleinsten Details, welche die Stärken von autobiografischen Hintergründen offenbaren (die Autorin selbst ist in Nunavut aufgewachsen). Etwa die Erwähnung, dass die Jungs gerne ihre Socken aneinander reiben und an die Haare der Mädchen halten, damit diese sich wegen der trockenen arktischen Luft elektrisch aufladen. Tagaq malt, nein, skizziert vielmehr mit ihren kurzen Textfragmenten eine derart eindringliche Stimmung, dass sie förmlich spürbar ist. Ich als Laiin habe diesen fremden, trostlosen, desillusionierten Arktisalltag voller Interesse aufgesogen, hätte mir jedoch mehr Hintergründe zur Eingliederung der Inuit und den Generationskonflikten gewünscht als jene zwischen den Zeilen anklingenden Erwähnungen (wenn nicht im Text, dann doch bitte in einem Nachwort). Allerdings legte die Autorin den Fokus stattdessen auf die Mythologie und verflocht sie immer stärker (ab der Hälfte untrennbar) mit ihrer Geschichte, sodass Wirklichkeit und Fiktion zur Frage der Interpretation erwuchsen… oder?

»Wir sind Erdfresser, aber ich will Blutfreundin sein, Ölspeierin, jemand mit weiter Flügelspanne, Geistschlürferin, Fleischleckerin. Ich will alles. In meinen Träumen töte ich einen ganzen Berg Füchse. Gnadentode, aber ich mache es gern.« S. 70

Für mich saß dieser Deutungsknoten zu fest. Ich erkannte zwar, was angedacht war, sah aber keine Möglichkeit, der Idee zu folgen und stieg gedanklich aus. Zweifellos spielt hier mein Unwissen zur Sagenwelt der Inuit eine Rolle (wenn es sich denn überhaupt immer um Anspielungen zu Sagen handelt), jedoch vertrete ich die Meinung, dass es bei derartigen Realität-Fiktion-Mischlingen, die Interpretationsspielraum lassen wollen, gerade extrem wichtig ist, die LeserInnen an die Hand zu nehmen und Brotkrümel zu streuen. Und zwar so, dass sie nicht im Gewirr des assoziativen Schreibstils untergehen. Die Handlung mutete am Ende unglaublich bizarr und zu verschlungen an, als dass ich etwas daraus hätte ziehen können. Zumal unsere Protagonistin in Folge ihrer mysteriösen Schwangerschaft einen Wandel durchläuft, der nicht schlüssig aufgeklärt, ja, einfach auf die magische Komponente geschoben wird. Der Umgang mit ihrem Charakter wirkte hier beinahe lieblos. Er trat hinter die Mythologie zurück und wurde vom Herrscher zum Opfer der Handlung…

Insofern bin ich in meiner Meinung zu »Eisfuchs« (das nebenbei gesagt einen wunderschönen roten Buchschnitt hat) zwiegespalten und überlasse sie ausnahmsweise einmal euch… 😉

Vielen Dank an den Kunstmann Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars!

Tanya Tagaq | Eisfuchs | Verlag Antje Kunstmann | Aus dem Amerikanischen von Anke Caroline Burger | 196 Seiten | 20,00 € | ISBN: 978-3-95614-353-3

7 Comments

  1. fraggle

    Angesichts der Textbeispiele trifft es „unfreiwillig gemerkt“ schon ziemlich gut … Ich verlasse ja gelegentlich sehr gerne meine literarische Wohlfühlzone – aber nicht SO weit. 😉

  2. Tina

    Ich war auch dezent überfordert von diesem Buch. Es gab Szenen, die mir gut gefallen haben, mit anderen und vor allem den Gedichten konnte ich dafür überhaupt nichts anfangen. Über ein wenig mehr „ab der Hand nehmen“ der Autorin hätte ich mich unheimlich gefreut, oder wenigstens ein kleines Nachwort, das einige Begebenheiten oder Sagen der Inuit im Nachhinein erklärt.

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