Eddas Welt besteht aus Colmin. Jenem gefährlichsten aller Gifte, gewonnen aus den silbernen Schuppen der Colminfische, das jedoch, richtig verarbeitet, zum wirksamsten aller Heilmittel erklart. Und so wagen sich Jahr für Jahr Händler ins eigenbrötlerische Küstendorf Colm, das sich ganz und gar der Colminproduktion verschrieben hat: Die Männer als Fischer, die Frauen und Kinder Schuppen stampfend an den Bottichen. Das Leben dort ist trist, vor allem für jene, die auch nach Jahren als Fremde angesehen werden, weil sie nicht im Dorf geboren wurden. Fremde wie Edda und ihr Bruder Tobin. Doch dann verschwindet er. Wie jedes Jahr ein Kind in den Kaltwochen verschwindet, geholt wird vom Meer, so flüstern die Dörfler. Zurück bleibt Edda. Allein mit einer schwarzen Feder. Einer Feder, die jenseits des Meeres weist. Tief hinein ins Inselreich, wohin sich keiner der Dörfler je wagte. Gut, dass Edda eine Fremde ist…
Dass ich mich zuletzt fürchterlich über ein Fantasy-Buch entrüstete, kann ich nun nicht anders als eine Art Akt kosmischen Gleichgewichts deuten, denn »Der König der Krähen«, der erste Teil der Silbermeer-Saga, hat mich einmal vollkommen umgestülpt und sehr, sehr glücklich zurückgelassen. Tatsächlich könnte ich die Besprechung auch schon an dieser Stelle beschließen, denn auszusetzen habe ich an diesem 616 Seiten dicken Fantasy-Epos-Auftakt… nichts. Es ist ganz einfach ein wunderbares Buch.
Jede Seite, jedes einzelne Wort saugte ich begierig ein, mein Lesetempo verlangsamte sich geradezu, weil ich kein Detail, keine Formulierung über die Welt, die Katharina Hartwell spinnt, verpassen wollte. Vom kleinen, abgelegenen Dorf mit seinen sperrigen, allem andersartigen feindlich gesinnten Bewohnern über die unbekannte Flora und Fauna des Inselreichs, von Wassermännern und düsteren Alptraumgestalten, Händler- und Glücksspielinseln hin zum großen Unbekannten, Hörensagen, vergangenen und kommenden Kriegen – Ellas Welt ist lebendig, dreht und wandelt sich… auch ohne sie.
Die Idee der Durchquerung eines Inselreiches mit dem Ziel »ganz am Ende« erinnerte mich natürlich zwangsläufig an den Manga bzw. Anime One Piece, in dem eine Piratencrew von Insel zu Insel schippert, Gegner und Obrigkeiten bezwingt und auf der letzten Insel jenen berühmten Schatz zu finden hofft, der ihren Anführer zum König der Piraten macht… Ob mich diese Ähnlichkeiten stören? Nun, ich liebe One Piece. 😉
Die Welt, der atmosphärische Schreibstil, das gleichmäßige (!) Tempo, die zahlreichen vielschichtigen Charaktere, die jedoch durch ihr »stationsweises« Auftauchen nie überfordern – Katharina Hartwells handwerkliches Können hielt mich in Atem, fürchtete ich doch immer den Abfall… der nicht kommen sollte.
Wollte ich mir nun etwas zum bemängeln aus den Fingern saugen, so wäre es die Exposition, die ich gern einer Straffung unterzogen sähe. Denn wenn auch Eddas Ruf zum Abenteuer früher erschallt, so verlässt sie Colm erst nach 200 Seiten. Manch einer wird hier bereits aussteigen und die Geschichte als langwierig abtun – was ich entschieden verneine, denn mit Blick auf die Dimension des Gesamtwerks, einer Reihe, eines EPOS ist es unerlässlich, den Ursprung zu beleuchten, der die Fäden wirft, eine Welt zu skizzieren, die über zwei Namen hinausgeht, was nebenbei gesagt viel zu oft schmählich vernachlässigt wird und Hartwell hier wunderbar gelingt. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass eine Verkürzung besagten Teils um etwa 50 Seiten dazu führen würde, dass einen das spannungsgeladene Suchtgefühl, das sich meiner auf Eddas Abenteuern bemächtigte, schon früher gepackt hätte.
Darüber hinaus gab es zwei kleinere Punkte, die mich nicht weiter störten, doch immerhin irritierten: Zum einen die Navigation auf See – nach den neuen Ansätzen zum Schiffsantrieb hätte ich mir hier einen Kompass oder ein Äquivalent gewünscht, das erklärt, wieso sie am Ende tatsächlich immer dort landen, wo sie es wollen (die Navigation auf dem Meer wirkte wie ein Kinderspiel) – zum anderen die Tatsache, dass Edda zwar als wissensdurstig beschrieben wird, in entscheidenden Momenten jedoch, wenn die theoretische Vorbereitung auf etwa eine Mission und die… Wesen, die einem dabei begegnen könnten, eigentlich unablässig sein sollte (nicht nur des Auftrags, sondern auch Ellas Charakters wegen), jene Neugier vollkommen über Bord geworfen wird und die Figuren sich vor Ort überraschen lassen. Das ist zweifellos der gewünschten Wirkung geschuldet, erschien mir jedoch widersprüchlich angesichts der etablierten Charaktereigenschaften…
Doch diese drei Punkte können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hartwell mich mit ihrer Welt, ihren Ideen, ihren handwerklichen Fähigkeiten vollkommen in den Bann schlug. Gute High Fantasy, die über die klassischen Elb-Zwerg-Ork-Welten hinausgeht, neues schafft und sich hierbei nicht in enttäuschenden Romantasy-Jugendbuchgefilden und Oberflächlichkeiten verliert, sondern nach höherem, weiterem, herausstechendem strebt, ist schwer zu finden. Und hier stimmte einfach alles. Damit ist »Der König der Krähen« nicht nur schon jetzt eines meiner Jahres- sondern Fantasy/Abenteuer-Highlights überhaupt. Es bleibt zu hoffen, dass die Folgebände dieses Niveau halten können…
Vielen Dank an den Loewe Verlag für das Rezensionsexemplar und die wunderbare Karte des südlichen Inselreiches!
Katharina Hartwell | Die Silbermeer-Saga. Der König der Krähen | Loewe Verlag | 616 Seiten | 19,95 € | ISBN 978-3-7432-0366-2
Klingt super. Das merk ich mir. 🙂
🙂
Hm, das bringt mich als Anhänger der klassischen Elb-Zwerg-Ork-Welten tatsächlich ins Grübeln. Denn abseits dieser Welten führt der Weg eben häufig genau in den Bereich der von Dir erwähnten Romantasy, mit dem ich so gar nichts anfangen kann. Da das hier glücklicherweise fehlt, sehe ich mir das Ganze wohl mal an.
Nebenbei bemerkt: Sehr gut geschrieben! 🙂
Vielen lieben Dank! Ich als Elb-Zwerg-Ork-Fan bin, wie du gemerkt hast, selbst ganz begeistert von dem Fund. Wobei es sich hier durch das Alter der Protagonisten natürlich immer noch um ein Jugendbuch (wohl gemerkt stimmungsmäßig wie gesagt absolut untypisch „erwachsen“ ) ohne großes Gemetzel handelt, dieser „epische“ Aspekt fehlt also, falls dir das wichtig ist. 🙂
Das Fehlen jeglichen „Gemetzels“ ist eher ein Pluspunkt, die Einstufung als Jugendbuch spricht allerdings wieder dagegen, denn für die fühle ich mich oftmals zu als und bin es ebenso oft auch. 🙂 Ach, wir werden sehen – das Leben als Entscheidungsneurotiker ist kein leichtes … 🙂
Haha, nun, falls es hilft: Ich würde es als All Age Roman bezeichnen – etwa so wie Harry Potter nur halt ganz anders. 😀
Falls das jetzt keine Schnappatmung verursacht, gebe ich gerne zu, Harry Potter nie gelesen zu haben! Meine oft wiederholte Begründung: „Als der erste Teil erschien, wähnte ich mich dafür schon zu alt, war es auch und bin es noch …“ 😉
Kann man für Momo, Pipi Langstrumpf, Die unendliche Geschichte je zu alt sein? Es gibt Geschichten, die kann man immer lesen. Und diese hier gehört dazu. Zumal du hier einen Schreibstil geboten bekommst, der anders als bei Rowlings ersten Büchern und dem Romantasy-Standard nicht einfach gestrickt, sondern absolut angemessen und ernsthaft ist. Aber ich will dich Entscheidungsneurotiker nicht ums taumeln bringen und am Ende eins auf die Mütze bekommen! 😀
Um die Eingangsfrage zu beantworten: Ähm, ja, ja, und, ääähm, ja. 😉 Ich bin da wirklich hoffnungslos unromantisch, was die Bücher aus Kinderzeiten angeht. Ja, dafür bin ich zu alt. Vielleicht habe ich auch unterschwellig irgendwas nicht aufgearbeitet, wer weiß!? 😉
Ich will Dich mit meiner Entscheidungsneurose jetzt aber ebenso wenig davon abhalten, sinnvollere Dinge zu tun. 🙂
Tsss 😀
Ja, ich weiß … 🙂