Mitternacht

Nein. Nein! NEIN!!!

Das ist ja wohl ein schlechter Scherz?! Ich bin wütend. So richtig wütend. Wütend auf den Verlag und das Lektorat, die so etwas durchwinken. Erwartet hier also keine über Tage gesetzte Meinung, sondern eine dieser seltenen Rezensionen, die sich direkt ans Auslesen anschließen, aus dem letzten Gefühl heraus geboren direkt in die Tasten geschlagen werden – in diesem Fall: Frustration.

Nicholas James ist Schriftsteller. Nunja, er hat erst EIN Buch mit mäßigem Erfolg veröffentlicht, wie sich der Londoner stets genötigt fühlt, klarzustellen, doch sein Lektor erwartet großes. Als er eines Nachts inspiriert zu einem neuen Roman aufwacht, entdeckt er neben seinem Bett einen Mann… der sich nach einem kurzen, irritierenden Wortwechsel in Luft auflöst. Noch ahnt Nicholas nicht, in welches Abenteuer er hineinzuschlittern droht, der nächtliche Besucher nämlich ist ein Flüsterer, der zwischen der Welt der Lebenden und der Toten verkehrt und im Auftrag der Verschiedenen deren Lebensgeschichten in die Köpfe von KünstlerInnen pflanzt, damit diese sie verbreiten. Denn auch in der Welt der Toten fürchtet man das Ende, das endgültige Ende, das droht, wenn man vergessen wird. Und als nun ausgerechnet Nicholas nicht nur den Flüsterer sehen, sondern auch das tote London betreten kann, wittert jemand die Chance, mithilfe des sonderbaren Neuankömmlings seine Erzfeinde auszulöschen…

Ihr kennt mich – ich bin einfach gestrickt. Sehe ich ein Cover mit einem Buch darauf, will ich es haben. Büchergeschichten sind meine Achillesferse, in diesem Fall wurde ich leider einmal mehr hinterrücks niedergestreckt. Denn was der Phantastikpreisträger Christoph Marzi mit »Mitternacht« vorlegt, ist nicht nur für mich als Rezensentin eine Enttäuschung, sondern vor allem als Leserin eine Frechheit.

»Alle Bücher träumen von Geschichten. Diesen Satz dachte Nicholas James, als er erwachte. Sie fürchten sich vor dem Vergessenwerden.« S. 9

Es fing recht vielversprechend an: die alles verändernde Begegnung gleich im ersten Kapitel; eine organische, flüssige Einführung in Nicholas‘ Alltag und Umfeld; ein reduzierter, zwar nicht außergewöhnlicher, doch durchaus solider, sich nicht an Beschreibungen aufhaltender, dafür auf direkte Rede und innere Monologe setzender, humorvoller Schreibstil; kurzum: eine sich rasch entwickelnde Geschichte ohne langwierige Exposition. Dachte ich. Bis ich mich am Ende des ersten Drittels wiederfand und fragte, was auf den letzten 100 Seiten eigentlich passiert war: »Ach, jetzt endlich beginnt die Handlung«. Doch wie zum Teufel soll die auf den verbleibenden 200 Seiten erzählt werden?

Ach, wenn du wüsstest …

Bevor wir uns diesem Mysterium widmen, lasst mich noch ein paar Worte zu anderen Problemstellen verlieren. Etwa dem verschwindend geringen Spannungsbogen. Sehen wir einmal von der starken Vorhersehbarkeit ob nicht gerade unauffälliger foreshadowing-Momente ab, die einzig durch der Leserschaft zum Schlucken hingeworfene Deus ex machina-Auftritte aufgemischt wird, so ist es vor allem die Tatsache, dass nichts, aber auch wirklich rein gar nichts unerklärt gelassen wird, die jegliches Aufkommen von Spannung nahezu im Keim erstickt. Denn sobald sich ein Rätsel auftut oder man als LeserIn Interesse an der Hintergrundgeschichte eines Charakters entwickelt, wird das ganze wenige Seiten später ohne weiteres aufgelöst. So verlieren nicht nur die Handlung und Charaktere, sondern auch die Welt an Reiz.

Während die Idee des Flüsterhandwerks und des Vergessenwerdens zu Beginn wahre Begeisterungsstürme in mir weckte, fiel sie mit jeder Seite immer mehr in sich zusammen, weil ich Unmengen an Potenzial verschenkt sah. Die Welt bleibt zu klein, zu eindimensional, zu blass. Die Lebendigkeit, die Individualität, die Neugier und Entdeckungsfreude fehlte – doch was erwartete ich auch von den verbleibenden 200 Seiten, auf die sich die Handlung zusammenquetschen musste? Und nicht nur der Schauplatz, sondern auch die Charaktere enttäuschten, denn leider ist unser Protagonist Nicholas sterbenslangweilig. Es ist einfach nichts besonderes an ihm und seiner manchmal durch rebellische Anwandlungen durchbrochenen Passivität.

Das täte der Geschichte keinen Abbruch, denn warum sollen Normalos nicht auch Abenteuer erleben, würden die anderen Charaktere dieses Fehlen an… nennen wir es Feuer… denn ausgleichen. Und tatsächlich gibt es eine Nebenfigur, die in ihrer urigen Geheimniskrämerei tatsächlich etwas unterhaltsam ist, jedoch auch der hetzenden Handlung (Nebenstränge? Was ist das?) und den zunehmend nervigen, sich im Kreis drehenden und von Nicholas‘ Begriffsstutzigkeit bestimmten Dialogen zum Opfer fällt.

Und dann ist da noch sein Love Interest und ihre »Liebesgeschichte«, die einfach nur unangenehm und unglaubwürdig ist (bei ihrem zweiten Aufeinandertreffen schmachten sie einander an wie verliebte Teenager und natürlich wird Nicholas im Finale mit seiner »Schwäche« erpresst *gähn*). Von dem Frauenbild,

a) die heiße, manipulative und betrügende Exfreundin und

b) die Augen scheu niederschlagende, ausgegrenzte, zu schützende Neue (gut, sie ist auch selbstbewusst und zielstrebig, aber in Gegenwart von Nicholas verwandelt sie sich leider in dieses wandelnde Klischee von wegen »du hast mich gesehen«)

wollen wir erst gar nicht reden.

Als hätte all das noch nicht gereicht, um mir mit meiner Rezensionsbrille zu missfallen (wie immer: natürlich kann man dieses Buch auch lesen und mögen, wenn man sich einfach hineinfallen lässt und mit einer anderen Intention an die Lektüre herantritt), so erwartete mich auf den letzten 15 Seiten die fieseste aller Überraschungen. Denn auf diesen 15 Seiten, die man gut und gerne nochmal teilen kann, weil sie nur zur Hälfte mit Text gefüllt sind, also auf diesen acht Seiten finden sich die letzten acht Kapitel, die zuvor nicht eine halbe, sondern 20 bis 30 Seiten umfasst hatten. Entsprechend abrupt, undurchsichtig, lieb- und stillos, nicht zu vergessen mit erheblichen Inhaltslücken, wird die Geschichte heruntergerasselt und ergibt zuletzt nicht einmal Sinn.

Was ich da auf den letzten Metern gelesen habe ist eine Frechheit. Eine Frechheit, die der Autor im Nachwort damit erklärt, dass er während des Schreibens einen Schlaganfall erlitt und die abschließenden Kapitel wegen der Lähmung seiner linken Körperhälfte und einer Wahrnehmungsstörung nur unter großen Mühen abtippen konnte. Natürlich gilt Christoph Marzi mein ganzes Mitgefühl und ich hoffe, dass er sich mittlerweile erholt hat, doch dass der Piper Verlag allen Ernstes dieses unfertige Manuskript in den Druck gab, ist unerhört. Interne Überlegungen wie Veröffentlichungstermine, (finanzieller) Beistand für den Autor oder ähnliches interessieren mich als LeserIn im Zweifelsfall nicht. Bei einem Verlagsbuch erwarte ich für mein Geld ein solides Produkt und fühle mich angesichts dieser Farce schlicht hinweg verarscht.

Ihr seht mich wütend und enttäuscht, denn was bleibt mir nun anderes übrig, als dem Verlag, der einige meiner liebsten Bücher herausgebracht hat, zu unterstellen: »Ach, der Name Christoph Marzi wird schon reichen, damit die Leute es kaufen…«?

Und das hat das Buch, auch wenn ich es nicht mochte, nun wirklich nicht verdient.

Christoph Marzi | Mitternacht | Piper Verlag | 320 Seiten | 15,00 € | EAN 978-3-492-28090-7

2 Comments

  1. Rina

    Oh Wow….da bist du richtig wütend…mit Recht.
    Nicht nur, dass du dich durch eine lahme Story quälst um dann ein liebloses Ende zu erhalten.
    Man hätte dem Autor auf jeden Fall Hilfe zustehen können, oder die Veröffentlichung verschieben müssen.

    Ich hab von ihm noch nichts gelesen, wenn das jetzt mein erstes gewesen wäre, wäre es wohl auch mein letztes.

    Schade um die Zeit und da Geld.

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