Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv

Beim St. Mary’s Institut für Historische Forschung ist nichts so, wie es scheint. Das wird auch der ahnungslosen Archäologin und Stellenanwärterin Dr. Madeleine Maxwell klar, als während ihres Vorstellungsgesprächs eine Reihe an Explosionen die dicken, denkmalgeschützten Mauern erschüttern lässt und das Kreischen der Feuermelder ausbleibt. Denn im St. Mary‘s zieht man die angewandte Forschung dem Studium alter, verstaubter Wälzer vor und begibt sich lieber selbst direkt an Ort und Zeit des Geschehens…

Da es einige Jahre her war, seit ich zuletzt eine Zeitreisegeschichte gelesen hatte, war ich angesichts der Neuerscheinung »Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv« hochmotiviert. Wie motoviert, sollte ich erst noch herausfinden, denn tatsächlich schlug mich das Buch derart in seinen Bann, dass ich die ersten 300 Seiten an einem Nachmittag verschlang, einzig unterbrochen von Jauchzen und Jubelgeschrei (kein Witz) und nervösem Auf- und Abgehen an besonders spannenden Stellen, um die Aufregung weiter hinauszuzögern und ein Beratungsgespräch mit meinem Kater zu suchen.

Ja, derart begeistert war ich von der Idee Jodi Taylors: Eine geheime Universitätsabteilung, die auf Anfrage Expeditionen zu bestimmten Ereignissen in der Geschichte organisiert, um offene Fragen zu klären; eine chaotische, aber liebevolle Familie an nerdigen WissenschaftlerInnen mit ihren kleinen Konkurrenzkämpfen und ihrer unverwechselbaren Begeisterungsfähigkeit für ihre Fachgebiete; und schließlich die Geschichte selbst, ein lebendiger Organismus, der neugierige HistorikerInnen nur dann duldet, wenn sie sich nicht einmischen und sonst gern mal einen Stein auf die Eindringlinge wirft…

»Der Unbekannte trug einen orangefarbenen Overall. Und anders als praktisch alle, die ich bislang getroffen hatte, hatte er Augenbrauen.« S.19

Meine Begeisterung war wie gesagt groß – zumindest, bis das erste Drittel sich dem Ende neigte. Denn anschließend taten sich mehr und mehr, nicht länger ignorierbar, Punkte auf, die meinen Lesefluss störten und die Rezensentin in mir aktiv werden und den Kopf schütteln ließen.

Beginnen wir bei der auffälligsten Schwäche, dem sonderbaren Erzähltempo. Als VielleserIn und jemand, der sich mit Schreiben, ergo auch Plotten beschäftigt, merkt man nach einiger Zeit intuitiv, wenn etwas am Aufbau einer Geschichte nicht stimmt. Und ein solches Gefühl beschlich mich im Falle dieses Buches nicht nur einmal, sondern so oft, wie es mir bisher nie (nehmen wir Wattpad, Selfpublishing und ein gewisses Buch aus einem kleinen Fantasyverlag, das ich auf diesem Blog bereits genug verteufelt habe, raus) untergekommen ist.

Die einzelnen Kapitel der Akte wirkten in ihrer Länge und ihrem Schwerpunkt oft im Verhältnis zur Gesamthandlung seltsam deformiert. Konkret meine ich damit, dass Szenen in die Länge gezogen und herausgestellt wurden, die wenig Bedeutung für die Handlung hatten und problemlos auf wenige Sätze hätten verkürzt werden können, während andere Kapitel mit wesentlichen Ereignissen, wo diese ausladende Ausführlichkeit gewünscht gewesen wäre, im Vergleich unbefriedigend schnell abgefrühstückt wurden. Die Zeitreisen selbst nehmen in dem Buch beispielsweise sehr wenig Raum ein, es spielt zu 90% in der Gegenwart – eine Beobachtung, die mich nicht weiter störte, auf die aber hingewiesen werden sollte.

Besonders auffallend waren die Schwächen im Aufbau gegen Ende – das einfach nicht kommen wollte. Bestimmt vier oder fünfmal dachte ich beim Ausklingen eines Kapitels: »Das ist ein schöner Schluss.«, aber es waren stets noch 100, 70, 50 Seiten, es ging immer weiter und weiter, ohne einen Punkt in Sicht. Gerade, weil es sich bei dem Buch um den Auftakt einer Reihe handelt, in dem Passagen problemlos in den Folgeband hätten geschoben werden können, frustrierte mich diese Unvollkommenheit. Zuletzt hatte die Handlung zwar einen durchaus zufriedenstellenden, runden Punkt erreicht, doch der Weg dahin war durch die beschriebenen zähen, irritierenden Strecken keineswegs ein Spaziergang. Was nicht heißen soll, dass ich zwischendurch eingeschlafen bin, denn auch die kürzbaren Kapitel habe ich gern gelesen, weil ich die Welt und die Charaktere mochte.

Doch genau hier liegt wohl der Knackpunkt: Ebenso wird es der Autorin gegangen sein. Sie wollte mehr und mehr von ihrer Idee zeigen und verlor in ihrer Liebe zu ihren Figuren den Aufbau aus den Augen. Hier hätte aus meiner Sicht eine LektorIn zur Stelle sein und radikale Kürzungen durchsetzen müssen. Da es sich um eine Übersetzung handelt, kann freilich nicht Blanvalet die Schuld zugeschoben werden, wohl aber dem britischen Verlag, der die Geschichte, die ursprünglich durch Selfpublishing bekannt geworden war, nach diesem Erfolg offenbar ohne tiefere Eingriffe abgenickt hat.

Ein weiteres Ärgernis, das meine innere Rezensentin in Aufruhr versetzte, war der hier nicht näher auszudifferenzierende, obligatorische Tiefpunkt der Geschichte, bei dem die Autorin in Hinblick auf die Protagonistin Entscheidungen traf, welche die Dramatik und Tristesse auf neue Sphären treiben sollten… Mich jedoch einfach nur aus dem Buch warfen. Sie führte hier einen Ton und Inhalte, Storyelemente und Charakterzüge ein, die sich nicht organisch in die Geschichte fügten, stattdessen wie Fremdkörper wirkten und mir das Leseerlebnis etwas madig machten.

Eine große Stärke und zugleich ein großes Problem, das »Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv« hat, ist seine Vielzahl an Nebenfiguren. Eine Stärke deshalb, weil diese Menge an eigensinnigen Charakteren großes Potenzial für Folgebände liefert, ein Problem, weil sie im Reihenauftakt dazu führte, dass die Einzelnen kaum »zu Wort« kamen und zu einer grauen Masse verschwammen. Bei etwaigen Todesfällen konnte Jodi Taylor wegen der fehlenden Bindung nicht die geringste Gefühlsregung in mir hervorrufen. Das ist schade, weil ich diese große, herzliche Forschertruppe sehr gern näher kennengelernt hätte. Doch dafür hätte es schlicht an Kürzungen von Figuren bedurft, die dafür in Folgebänden ihren Auftritt hätten haben können… Auch der platte, eindimensionale Umgang mit Figuren aus der Gegenpartei (Bösewicht, weil böse) und die Vorhersehbarkeit vieler Wendungen enttäuschten.

Doch bevor ihr nun denkt, ihr solltet die Finger von diesem Buch lassen, lasst mich das Vorangegangene relativieren: Diese Rezension ist aus der leidenschaftlichen Sicht eines Fans geschrieben, der nur deshalb so streng mit seinem Helden ins Gericht zieht, weil er ihn so verehrt. »Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv« ist das erste Buch seit sehr langer Zeit, das mich, wenn auch nicht bis zum Ende, unglaublich begeisterte, herumtigern und an den Seiten kleben ließ. Ich rate euch daher, euch einen eigenen Eindruck zu verschaffen und einen Blick in die Leseprobe zu werfen. Für mich stand nach den ersten drei Sätzen bereits fest, dass ich das Buch lesen muss.

»In meinem Leben gab es zwei Momente – Momente, in denen sich alles änderte. Momente, in denen alles auf Messers Schneide stand. Augenblicke, in denen die Dinge in die eine oder in die andere Richtung hätten laufen können.« S. 9

Und auch die Folgebände, mittlerweile drei an der Zahl, werde ich gern nach ihrer Übersetzung inhalieren, weil ich unsere schlagfertige Protagonistin und das St. Mary’s mit seinem liebenswerten Gewusel aus quirligen WissenschaftlerInnen ungemein liebgewonnen habe…

Vielen Dank also an Blanvalet dafür, mir diese Welt eröffnet zu haben und natürlich für das Rezensionsexemplar! 

Jodi Taylor | Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv | Aus dem Englischen von Marianne Schmidt | Blanvalet | 512 Seiten | Preis:  9,99€  | ISBN: 978-3-7341-6208-4

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