Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

»Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass alles nur Einbildung sein könnte? Ich habe längst aufgehört, mich das zu fragen, sagte ich. Ich glaube nicht, dass ich verrückt bin, aber wenn ich verrückt wäre, woher sollte ich es wissen?« S. 121

Christoph bittet Lena um ein Treffen. Sie ist 30, er 50. Sie kennen sich nicht. Doch dann erzählt er ihr seine Lebensgeschichte. Ihre Lebensgeschichte. Denn Lena gleicht Magdalena, einer Frau, die Christoph einmal geliebt hat und ihr Freund Chris seinem jüngeren Ich. Wie auch ihrer beider Vergangenheit einander gleicht. Und vielleicht… Vielleicht auch ihre Zukunft.

»Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« ist mein erstes Buch von Peter Stamm, von dem ich bis dahin insbesondere im Hinblick auf »Agnes« Gutes gehört hatte. Doch ich bin ehrlich: Es war ein Coverkauf. Ein Titelkauf. Das interessante Gedankenexperiment, das der Klappentext versprach, tat sein Übriges. Nun würde ich gern verkünden, einen neuen Lieblingsautor entdeckt zu haben, doch gänzlich überzeugen konnte mich Stamm mit dem Titel leider nicht. Die Handlungskonstruktion, die komplexe, rasch verschwimmende Identitätsfrage, die kurzen, wild durch Zeitebenen wechselnden Kapitel und die Verwirrung, die aus dieser Kombination entsteht – »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« ist fraglos ein Buch, auf das man sich einlassen muss. Die Bedeutung bestimmter Abschnitte wird erst mit der Zeit deutlich oder aber bleibt gänzlich offen zur Interpretation.

»Ich weiß nicht weshalb, sagte ich, aber ich habe manchmal das Gefühl, er existiere nur meinetwegen. Wäre ich ihm nicht begegnet, hätte es ihn nie gegeben. Als sei er ein Kind meiner Erinnerung« S. 85

Gleicht ein Leben dem anderen und ist Individualität nur eine Illusion? Gibt es Schicksal? Und kann man ihm entfliehen? Das sind die Fragen, die Stamms Figuren umtreiben und an den kleinen Unterschieden ihrer Lebenswege klammern lassen. Doch gerade dieses Herausstellen der Unterschiede grub während der Lektüre Falten in meine Stirn, legte Stamm ansonsten doch so viel Wert auf Gleichheit, dass er nicht nur die genauen Situationen, die Rollen und Handlungsorte, sondern sogar die Namen vereinheitlichte. Maßnahmen, die unrealistisch und damit phantastisch wirken, aber durch dieses Betonen der Abweichungen ihrer Leben wieder aus dieser Deutungsecke herausgezerrt werden. So verbleibt die Geschichte in einem irritierenden Vakuum, kann sie sich doch nicht entscheiden, was sie sein will und verwehrt es zeitgleich der LeserIn, einen Standpunkt zu wählen, weil beide Seiten im sich verdichtenden Identitätswirrwarr eindeutig bedient werden. Zweifellos war diese Wirkung Stamms Ziel, doch erschien mir die Handlung so seltsam unnatürlich – sofern es eine natürliche Konstruktion geben kann – künstlich. Dieser Eindruck festigte sich schon zu Beginn beim Aufeinandertreffen der Charaktere: Lena kennt Christoph nicht, spaziert und schweigt aber geduldig mit ihm vor sich hin, bevor sie zum Grund des Treffens kommen. In Verbindung mit Stamms schlichter, eleganter Sprache erzeugt das zwar eine ruhige, harmonische Stimmung, erscheint mir jedoch kaum wie schlüssiges Verhalten in einer derartigen Situation. Schon früh wird also Wirkung über Glaubwürdigkeit gestellt, wenngleich die Bilder, die gemalt werden, einfach nur schön sind…

Einmal abgesehen von den einfach und zugleich wunderbar poetisch formulierten philosophischen Ausbrüchen gefiel mir insbesondere der Wendepunkt der Geschichte: Christoph konfrontiert Chris mit ihrem Doppeldasein. Wie sich das Gespräch entwickelt und was sich daraus ergibt, soll nicht verraten werden, doch es war zweifellos ein genialer Schachzug des Autors und eine Wendung, an die ich mich auch in Jahren noch erinnern werde. Ebenso von Zweifeln erhaben ist das Ende der Geschichte, das den Kreis zugleich öffnet und schließt und die nahezu zur Unkenntlichkeit verdichtete Identitätswirrnis auf eine neue Deutungsebene hebt. Allein für diese vier Seiten hat sich die Lektüre gelohnt.

Trotz einiger Stärken kann ich nicht verhehlen, dass Stamms Buch mich in seiner Ansammlung an positionierter Schönheit, Verwirrung, Melancholie und den bröckchenweise hingeworfenen Fragen nach Austauschbarkeit und Sinn nicht ernstlich erreichen konnte. Die Figuren berührten mich nicht (die weiblichen Charaktere wirkten ohnehin eher wie Beiwerk) und die Geschichte selbst, besticht und verliert sie doch zugleich durch ihre zweifelhafte Deutungshoheit, vermochte mich nur mäßig zu fesseln und ließ mich am Ende etwas ratlos zurück, wenngleich feststeht, dass der Autor sein Handwerk versteht…

Peter Stamm | Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt | Fischer Verlag | 160 Seiten | Preis:  11,00€  | ISBN 978-3-596-29784-9

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