Der Kirschbaum meines Feindes

Dieses Buch entdeckte ich vor einigen Monaten in einer Bahnhofsbuchhandlung und nahm es spontan mit. Das geschieht wahrlich nicht oft, vielleicht zweimal im Jahr (Antiquariatsbesuche einmal ausgenommen), da ich mir des Geldes wegen gern vor Kauf einen Überblick über die Rezeption eines Titels verschaffe. In diesem Fall verzichtete ich darauf, weil der Klappentext sofort überzeugte. Und da ich nun seit einer geschlagenen Stunde an einem eigenen inhaltlichen Teaser scheitere, greife ich geschlagen auf besagten Klappentext zurück:

In einem kleinen Café am Meer kommt es zu einer folgenschweren Begegnung: Herr Luo, ein erfolgreicher Geschäftsmann, will sich gerade einen Kaffee bestellen, als er den Besitzer sieht und erstarrt. Herr Luo ergreift die Flucht und versucht, sich das Leben zu nehmen. Kurz darauf betritt seine Tochter das Café, um herauszufinden, was ihren Vater dazu getrieben hat. Der Cafébesitzer beginnt zu erzählen: von seiner wunderschönen Frau, die eines Nachts das Haus verließ und nie wiederkehrte – und von Herrn Luo, in dessen Garten sie einst einen prächtig blühenden Kirschbaum fotografierte…

Der Roman ist in vier Teile unterteilt, wobei der erste und abschließende Abschnitt in der Gegenwart spielen und so die mittleren, der Vergangenheit gewidmeten Kapitel einrahmen. Der Kreis schließt sich, in formaler wie inhaltlicher Hinsicht. Möglicherweise ist dies der Grund, weshalb mir neben der starken Anfangsszene allein das letzte Drittel positiv im Gedächtnis geblieben ist. Fäden, die zu Beginn gestreut wurden, erfuhren eine mal mehr, mal weniger befriedigende Auflösung. Vor allem jedoch verstand ich endlich, was und wohin das Buch wollte. Denn so klar der Klappentext auch erscheint, so überrascht und verwirrt war ich zu Beginn der Lektüre…

Der erste Teil ist eine Ansammlung verwirrender Eindrücke des namenlosen Ich-Erzählers. Es ist klar, dass etwas Tragisches passiert ist, sein Hass auf Herrn Luo ist spürbar. Und dann kommt auch noch dessen Tochter und geißelt sich selbst, indem sie regelmäßig Kaffee bei dem Mann trinkt, der für den Zustand ihres Vaters verantwortlich ist. Sie selbst weiß nicht was passiert ist, wohl aber, dass er etwas damit zu tun hat (eine Tatsache, die wie das Wissen der Dorfbewohner darum frustrierender Weise nie aufgelöst wird). Das Ziel des Buches ist klar: Das Geheimnis um die zugrunde liegenden Geschehnisse muss gelüftet werden. So weit so gut.

Doch was dann folgt, ist eine 200-seitiger, viel (!) zu detaillierter und ermüdender Blick in die Vergangenheit des Protagonisten. Wir erfahren von seiner durch Armut und Schmerz geprägten Kindheit, vom Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und den Hemmungen bei erster Konfrontation mit den Schattenseiten der Immobilienindustrie.

»Kreativität ist das Faszinierendste, was es gibt. Sie kommt aus einem absolut freien Vorstellungsraum, wie geschaffen für jemanden wie mich, ohne jeden Besitz, vom Rand der Gesellschaft.« S.78

Wir lernen Aki kennen, die große Liebe des Protagonisten, wie er nicht müde wird, uns weis zu machen, obwohl die beiden einander auch nach Jahren nicht wirklich zu kennen scheinen. Sie träumen von mehr und verharren doch in ihren Verhältnissen, trauen sich nicht mehr zu, schauen lieber auf, definieren sich über ihren Stand. In diesem Sinne kann man dem Buch definitiv ein saftiges Maß an Gesellschaftskritik zuschreiben.

»Was ihre Linse eingefangen hatte, waren genau die einsamen Ecken, die meine Abwesenheit zurückließ. Man sah, dass die Kamera Aki nicht dazu gebracht hatte, sich weiter hinauszuwagen. Im Gegenteil, ihr Blick durch das Objektiv offenbarte, wie beschränkt unser Leben war.« S.186

Und dann gibt es noch das Bau-Projekt und den »echte Männerfreundschaft wird im Puff geboren«-Chef (S.174), deren Rolle wie vieles lange Zeit unklar bleibt, weil der gesamte Ausflug in die Vergangenheit vor allem eines ist: ungefiltert und somit schwer einzuschätzen. Der einzige Beitrag zur Spannung bleibt die zu Beginn aufgeworfene Frage: Was ist passiert? Aber um die zu beantworten, bräuchte man nicht im Urschleim zu rühren und schräges Immobilien-Kauderwelsch in die Länge zu ziehen. Erst recht bedürfte es keiner abstrusen Entführungsszene, die konstruierter nicht hätte wirken können, diente sie doch allein dazu, Leid und Wut des furchtbar blass geratenen Protagonisten zu erklären.

Nachdem ich mir meine Frustration nun von der Seele geredet habe, klingt es ganz so, als fände ich das Buch schrecklich, obwohl dem keineswegs so ist. Den Schreibstil etwa behalte ich positiv in Erinnerung, denn einmal abgesehen von Namen und Schauplätzen sowie den typisch-asiatischen, gelegentlich auftretenden Vergleichen in Verbindung mit Bambus, Tee, Wind, etc. merkte man dem Buch seinen Charakter einer Übersetzung aus dem Chinesischen nicht an. Tatsächlich barg so mancher Satz sogar einen gewissen Humor, dem ich so bei asiatischer Literatur noch nicht begegnet bin.

Hinzu kommt der letzte Teil, der mich endlich »abholte« und mich erstmals dazu brachte, Sympathie für die Charaktere zu empfinden. Wobei auch hier ein kleiner Dämpfer nicht verhindert werden kann, da es sich dabei um Nebencharaktere, nämlich den fragwürdigen Chef des Protagonisten und die Tochter des verfeindeten Herrn Luo handelt. Denn während der Autor es im gesamten Buch nicht vermochte, die Blässe des Protagonisten zu vertreiben (von Aki und Herrn Luo wollen wir gar nicht erst anfangen), avancierten diese beiden Nebencharaktere zu den heimlichen Stars der Geschichte.

»Mein Boss, die, ohne zu übertreiben, selbstherrliche und von Minderwertigkeitskomplexen geplagte Nummer acht, konnte sich nicht dazu durchringen, die Gäste zu verabschieden.« S.207

Mein Problem mit »Der Kirschbaum meines Feindes« ist ganz einfach die Ungewissheit. Die Ziellosigkeit im Hinblick auf das »Wie?«.

Ich hatte angesichts des ersten Teils erwartet, dass die Gegenwart, das »danach«, im Fokus des Buches stände. Und auch im Nachhinein bin ich der Meinung, dass ihm eine solche Maßnahme gut getan hätte. Dem gegenüber steht die Auflösung um Aki, die viele als unbefriedigend empfinden werden, mich jedoch in ihrer Unklarheit recht zufrieden zurückließ. In der Realität schließt sich der Kreis eben nicht immer, Fragen bleiben offen, Worte bleiben unausgesprochen. Was soll ich sagen, ich mag offene Enden!

Wang Ting-Kuo | Der Kirschbaum meines Feindes | Aus dem Chinesischen von Johannes Fiederling | Arche Verlag |  272 Seiten | Preis:  22,00€ | ISBN 978-3-7160-2770-7

3 Comments

  1. Rachel

    Mir ging es ähnlich. Diese langatmige Aufarbeitung der Vergangenheit des Protagonisten muss nicht sein. Ich habe überlegt, ob darin schon Fragen liegen, die der Schreiber unterschwellig eingearbeitet hat, um uns als LeserInnen zum Nachdenken in der Abfolge zu zwingen. (Ich suche immer und in allem einen Sinn, lach, auch wenn der oft doch verschlossen bleibt.) Weiter verschenkt habe ich es nicht, aber vielleicht werde ich es ja noch einmal lesen…

    Herzlichst, Edith

    1. Katharina Hoppe

      Oh ja, die Suche nach dem Sinn. Ich habe das Gefühl, dass er auf eine Gesellschaftskritik hinauswollte im Hinblick auf die verschiedenen Schichten und mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten (zumal sich die Identifizierung der Protagonisten mit einer bestimmten Klasse im Roman ja auch stark auf ihr Selbstbild auswirkt von wegen „wir sind halt, wie wir sind und geben uns damit zufrieden“) Hinzu kommt, dass diese Tatsache ja auch nicht unwesentlich am Bruch der beiden beteiligt war. Die Idee mit der Abfolge ist mir auch in den Sinn gekommen, aber dann löst er es ja doch chronologisch. Einfach etwas rätselhaft, das Buch…

      1. Rachel

        Du Liebe, ich habe nochmal nachgelesen und teile deine Meinung. Ich steige hinter nichts Anderes, obwohl es sich für mich immer noch anbietet, lach… eben rätselhaft, lächel…..

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