Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren

Ach ja, schon nach dem ersten Satz (der hier aufgrund seiner beachtlichen Länge nicht zitiert werden soll; nur so viel: es geht um Paternosteraufzüge) war es um mich geschehen. Und die Freude sollte anhalten, denn alle fünf in diesem Büchlein versammelten Kurzgeschichten bzw. Erzählungen von Heinrich Böll wussten mich durch ihren köstlichen Humor und Wahnwitz bestens zu unterhalten…

Doktor Murkes gesammeltes Schweigen

Eine einflussreiche Persönlichkeit des unbenannten Rundfunksenders »hatte sich ›plötzlich angeklagt gefühlt, an der religiösen Überlagerung des Rundfunks mitschuldig zu sein‹, und war zu dem Entschluß gekommen, Gott, den er in seinen beiden halbstündigen Vorträgen über das Wesen der Kunst oft zitiert hatte, zu streichen und durch […] die Formulierung ›jenes höhere Wesen, das wir verehren‹ zu ersetzen« (S.7-8). Und nun wird der Redakteur Dr. Murke mit der Aufgabe betreut, diese Vorträge durchzugehen und sämtliche Erwähnungen Gottes entsprechend zu ersetzen…

Nicht nur zur Weihnachtszeit

»Tante Milla war in der ganzen Familie von jeher wegen ihrer Vorliebe für die Ausschmückung des Weihnachtsbaumes bekannt, eine harmlose, wenn auch spezielle Schwäche« (S.58-59), die der ganzen Familie zum Verhängnis werden sollte. Denn nachdem der zweite Weltkrieg die Aufrechterhaltung des Christbaumes unmöglich machte, und 1947 erstmals wieder ein »normales« Weihnachtsfest gefeiert wird, bricht Tante Milla in Tränen aus und beginnt zu schreien, als der Tannenbaum abgebaut werden soll. Die Ärzte sind ratlos und Onkel Franz beginnt mit der schicksalhaften »Tannenbaumtherapie«, die jeden Tag der folgenden Jahre zum Weihnachtstag erklärt und die Anwesenheit der gesamten Familie erfordert. Mit der Zeit tragen sämtliche Familienmitglieder einen Knacks von der andauernden Scharade davon. Die Idee, Schauspieler als Vertretung ihrer selbst zu engagieren, kommt zu spät…

Es wird etwas geschehen

Schon nach kürzester Zeit kann der namenlose Protagonist 13 Telefone auf einmal bedienen, denn bei seiner neuen Arbeitsstelle dreht sich alles um Leistung. »Die belangloseste Tätigkeit sah bei Wunsiedel [dem Chef] wie eine Handlung aus: wie er den Hut aufsetzte, wie er – bebend vor Energie – den Mantel zuknöpfte, der Kuß, den er seiner Frau gab, alles war Tat« (S.112). Das firmeneigene Mantra »Es wird etwas geschehen!« wird eifrig von den Angestellten nachgeplappert, bis dann tatsächlich etwas geschieht und unser Protagonist seine wahre Berufung findet…

Hauptstädtisches Journal

»Als die Armee des Marschalls […] den Rückzug antreten mußte, konnte Hürlanger-Hiß nur 8500 Mann Verluste nachweisen. Nach Berechnungen erfahrener Rückzugsspezialisten des Tapir – so nannten wir im vertrauten Gespräch Hitler, wie Sie wissen – hätte seine Armee aber bei entsprechendem Kampfesmut 12300 Mann Verluste haben müssen« (S.131-132).

Aber natürlich kann der frisch ernannte General Machorka-Muff bei seiner Rede für die »Hürlanger-Hiß-Akademie für militärische Erinnerungen« neue Erkenntnisse mit sehr viel höheren Verlustzahlen präsentieren, die die Ehre jenes Marschalls wieder herstellen. Doch nicht allen gefallen die Pläne unseres Protagonisten…

Der Wegwerfer

»Jahre habe ich damit verbracht, meinen Beruf zu erfinden, ihn kalkulatorisch plausibel zu machen; ich habe Abhandlungen geschrieben; graphische Darstellungen bedeckten – und bedecken noch – die Wände meiner Wohnung« (S.141-142). Denn unser Protagonist ist professioneller Wegwerfer. Bevor die anderen Leute mit ihrer Arbeit beginnen, trennt er die Werbung von den eingegangenen Briefen und Rechnungen und erspart so seinen Kollegen hunderte unnütze Arbeitsstunden. Doch sonderlich glücklich ist er nicht…

Fazit

Natürlich ist den LeserInnen anzuraten, die allesamt geistreichen Geschichten stets mit einem Auge auf den geschichtlichen Kontext, in dem sie entstanden, zu betrachten, allein der mal mehr, mal weniger offensichtlichen politischen Kommentare wegen. Interpretationen und Erklärungen des Schriftstellers zu den Kurzgeschichten gibt es zu Hauf im Internet und waren zum Teil eine durchaus erhellende Ergänzung zur Lektüre. Wenngleich die Geschichten trotz ihrer genrespezifischen Kürze für meinen Geschmack oft ein Stück zu lang geraten sind, bleibt »Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren« eine große Empfehlung für alle Fans von Satire!

Meine Ausgabe wurde 1968 von der Deutschen Buchgemeinschaft herausgegeben. Neueste Alternative: 

Heinrich Böll | Doktor Murkes gesammeltes Schweigen | Kiepenheuer & Witsch |  160 Seiten | Preis:  10,00€ | ISBN 978-3-462-04580-2 

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